Süddeutsche Zeitung

Expressionismus und Psychologie:Von wegen Gekritzel

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"Das hätte mein Kind auch malen können", behaupten viele beim Betrachten expressionistischer Bilder. Stimmt nicht: Wir schätzen abstrakte Kunst mehr, als wir vermuten.

Sebastian Herrmann

Congo brannte für seine Kunst. Wer den Schimpansen bei der Arbeit mit dem Pinsel störte, wurde Ziel heftiger Wutausbrüche. Hielt Congo ein Bild für abgeschlossen, dann konnte ihn nichts dazu bewegen, weitere Farbkleckse in das bunte Gewirr auf dem Papier zu setzen.

Die Kunstwelt reagierte amüsiert auf den Affen, der unter der Anleitung des Verhaltensforschers Desmond Morris zur Malerei gefunden hatte. Doch diese Meinung muss seit Congos Schaffensphase in den 1950er Jahren revidiert worden sein: 2005 wurden drei seiner Werke für 22.000 Euro versteigert.

Für viele galt die Auktion in London als letzter Beweis für die belanglose Beliebigkeit abstrakter Kunst und als Bestätigung eines Urteils vieler Museumsbesucher: "Das hätte mein Kind auch malen können."

Angelina Hawley-Dolan und Ellen Winner vom Boston College liefern nun aber empirische Belege dafür, dass Menschen abstrakte Kunstwerke besser und schöner finden als vergleichbare Kritzeleien von Kindern, Affen oder Elefanten ( Psychological Science, online).

"Die Welt abstrakter Kunst ist zugänglicher, als die meisten Menschen glauben", schreiben die Psychologinnen. "Sogar Menschen, die keine Erfahrung mit bildender Kunst haben, sehen mehr, als ihnen bewusst ist, wenn sie abstrakte expressionistische Bilder betrachten."

Die Forscherinnen ließen 72 Probanden - knapp die Hälfte Kunststudenten - Bilder beurteilen. Die Gemälde stammten von Künstlern wie Cy Twombly, Mark Rothko, Mark Tobey und anderen Vertretern des abstrakten Expressionismus. Die übrigen Bilder waren von Kindern, Schimpansen, Gorillas oder Elefanten angefertigt worden. Zusammen mit Künstlern wählten die Psychologinnen Bildpaare aus, die sich glichen. Zum Teil seien die Gemälde von Künstlern sowie Kindern oder Tieren "schockierend ähnlich" gewesen, so Hawley-Dolan.

Ihre Probanden ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie sollten bei jedem Paar sagen, welches Bild ihnen besser gefiel und welches das bessere Kunstwerk sei. Sowohl die Kunststudenten als auch die übrigen Probanden bewerteten mit großer Sicherheit die Gemälde tatsächlicher Künstler als besser; diese gefielen ihnen im Schnitt auch besser. Die Studienteilnehmer rechtfertigten ihr Urteil meist mit dem Hinweis darauf, dass sie in den Bildern mehr Absicht, Planung und Kunstfertigkeit erkennen könnten.

"Besonders interessant war aber, dass die meisten ihre Meinung auch dann beibehielten, wenn wir die Bilder falsch beschrifteten", sagt Winner. Dabei wiesen die Wissenschaftlerinnen echte Kunstwerke als Bilder von Kindern oder Tieren aus und umgekehrt. Auch dann bevorzugten die Testpersonen mehrheitlich die Arbeiten renommierter Künstler. "Die Leute mögen sagen, ein Bild hätte auch von ihrem Kind stammen können", schreiben die Autorinnen, "doch wenn sie zwischen dem Werk eines Kindes und einem Rothko wählen müssen, dann entscheiden sie sich für den Rothko - selbst wenn er als Bild eines Kindes oder Tieres beschriftet ist."

Wird die abstrakte Kunst also massentauglich? Bestimmt nicht, viele Menschen werden weiter die Nase über das vermeintliche Gekritzel von Cy Twombly rümpfen und sich über Geschichten wie die von Freddy Linsky amüsieren: Im Jahr 2007 gingen Galerien und Kunstkritiker den Ketchup-Schmierereien des Zweijährigen aus Großbritannien auf den Leim.

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Quelle:
SZ vom 24.03.2011
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