Süddeutsche Zeitung

Covid-19:Kommt Europas "Patient 0" aus Bayern?

Lesezeit: 2 Min.

Von Hanno Charisius

Das neue Coronavirus wirbelt auch den wissenschaftlichen Prozess ordentlich durcheinander. Noch nie schritt der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn so schnell voran wie während des aktuellen Ausbruchs. Und noch nie mussten so viele gerade erst veröffentlichte Studien so schnell wieder zurückgezogen oder korrigiert werden. Normalerweise entwickeln Forscher Hypothesen, prüfen sie in Experimenten, schreiben ihre Ergebnisse und Interpretationen in Abhandlungen nieder, die von Kollegen begutachtet werden, bevor sie schließlich, vom Gutachter geadelt, in einem Fachjournal veröffentlicht werden. Zurzeit findet dieser peer review genannte Eigenkontrollmechanismus der Wissenschaft im Minutentakt statt - auf Twitter.

Fest steht, dass der Erreger ursprünglich aus Wuhan stammt

Mittwochvormittag schrieb dort der Virusgenetiker Trevor Bedford aus Seattle, ein paar Variationen im Virus-Erbgut zahlreicher Cov-19-Patienten aus Europa und Südamerika würden seiner Meinung nach darauf hindeuten, dass all diese Erreger einen Ursprung haben. Nämlich einen Patienten aus Bayern - Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto. Der war Ende Januar erkrankt, nachdem er sich bei einer Kollegin aus China mit Sars-CoV-2 infiziert hatte. Das könnte alles Mögliche bedeuten: Zum Beispiel, dass die Eindämmung der Seuche in Bayern vor einem Monat doch nicht geklappt hat, dass den Fahndern der Gesundheitsämter doch ein paar Viren durch die Maschen ihrer Überwachungsnetze geschlüpft und zum Beispiel nach Italien gelangt sind. Doch es dauerte nicht lange, bis sich andere Wissenschaftler zu Wort meldeten.

Christian Drosten etwa, Professor und Institutsdirektor der Virologie an der Charité Berlin, einer der weltweit führenden Experten, wenn es um Coronaviren geht - und normalerweise nicht sehr aktiv auf Twitter. Er schrieb, aufgrund der Daten sei es wahrscheinlicher, dass die Viren aus München und Italien einen gemeinsamen Ursprung in China haben. Das würde bestätigen, was bislang vermutet wird: Das Virus gelangte auf verschiedenen Wegen mehrfach nach Europa und breitete sich nicht von Deutschland in alle Himmelsrichtungen aus.

Drosten war bereits vor einigen Tagen auf die genetischen Varianten gestoßen, die Bedford zu seiner Hypothese geführt hatten, dass der europäische Ausbruch auf einen Patienten in Bayern zurückzuführen sei. "Es lag im Raum, dass das Virus aus München doch weiter übertragen wurde", sagte Drosten dem Sender NDR. Doch nachdem er zwei Stunden darüber nachgedacht hatte, war er sich sicher, dass die Hypothese vom bayerischen "Patienten 0" nicht trägt. Denn dazu seien die Unterschiede zwischen den bayerischen und italienischen Viren doch zu groß.

Nachdem mehrere Kollegen via Twitter ihre Zweifel angemeldet hatten, schrieb Bedford in der Nacht zu Donnerstag, dass dies anschaulich illustriere, wie Wissenschaft funktioniere: "Menschen formulieren ihre Hypothese, und andere kritisieren. So kommen wir gemeinsam dem Ziel näher, die Welt besser zu verstehen." Er hält seine Hypothese noch immer für haltbar, doch das von Drosten skizzierte Szenario der mehrfachen Einschleppung ebenfalls für plausibel. Es braucht noch viele genetische Untersuchungen, um diese Frage zu beantworten.

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Quelle:
SZ vom 06.03.2020
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