Süddeutsche Zeitung

Diskriminierung:Was Benachteiligung kostet

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Wegen der Benachteiligung von Afroamerikanern und Latinos haben die USA seit 1990 rund 50 Billionen Dollar an Wirtschaftsleistung eingebüßt.

Von Claus Hulverscheidt

Es ist ja nicht so, als mangelte es an Einsicht, an Sonntagsreden und warmen Worten. Im Gegenteil: Immer wieder klagen US-Politikerinnen und -Politiker lautstark darüber, dass ethnische Minderheiten im Land wirtschaftlich benachteiligt und von der Teilhabe an Wachstum und Wohlstand ausgeschlossen sind. Schon Stunden später jedoch haben die meisten weißen Bürger das Thema wieder vergessen, was womöglich auch damit zu tun hat, dass für sie selbst die Diskriminierung von Schwarzen und Latinos ja keine Nachteile mit sich bringt. Oder doch?

Eine Untersuchung von vier Ökonominnen, darunter Mary Daly, Präsidentin der Regional-Notenbank von San Francisco, kommt jetzt zu dem Ergebnis, dass unter der Ungleichbehandlung keineswegs nur die direkt betroffenen Gruppen leiden, sondern dass sich auch die Bevölkerungsmehrheit durch ihre Ignoranz ins eigene Fleisch schneidet. Die Expertinnen liefern dazu eine konkrete Zahl: Ihrer Studie zufolge hat die gravierende ökonomische, soziale und gesellschaftliche Ungleichheit im Land die Vereinigten Staaten in den vergangenen 30 Jahren kaum mehr vorstellbare 51 Billionen Dollar (rund 43 Billionen Euro) an Wirtschaftsleistung gekostet.

Nun kann man gegen derlei Berechnungen vieles einwenden: dass sie sehr theoretisch sind, dass sie zahlreiche Einflussfaktoren außer Acht lassen und auf Dutzenden Annahmen beruhen, bei denen die kleinste Verschiebung zu einer anderen Endsumme führt. Das ändert aber nichts daran, dass die Studie erstmals die ganze Dimension des Problems offenbart hat, denn im Grunde spielt es ja keine Rolle, ob die Wohlstandsverluste aus drei Jahrzehnten nun bei 30 oder 50 oder 70 Billionen Dollar liegen: Aus politischer Sicht ist jede dieser Zahlen im Grunde indiskutabel.

Afroamerikaner verdienen acht Dollar pro Stunde weniger

Entscheidend ist aus Dalys Blickwinkel die Erkenntnis, dass große und dauerhafte ethnische Unterschiede bei Erwerbstätigenquote, Bildungsgrad und Verdienstmöglichkeiten nicht nur den direkt Betroffenen schaden, sondern "den wirtschaftlichen Kuchen für die Nation insgesamt kleiner machen". "Das Gebot, mehr Gleichheit zu schaffen und zumindest einige dieser Lücken zu schließen, ist also nicht nur ein moralisches, es ist auch ein ökonomisches", so die Chefin der Regional-Notenbank, die für den gesamten Westen der USA zuständig ist. Daly gehört auch dem geldpolitischen Ausschuss an, dem wichtigsten Gremium der US-Notenbank Fed.

Wie unterschiedlich sich das Arbeitsleben für viele Amerikaner - abhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft und ihrem sozialen Status - darstellt, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. So verdienen schwarze Arbeitnehmer im Schnitt acht Dollar pro Stunde weniger als weiße Beschäftigte, die Arbeitslosigkeit unter Afroamerikanern ist deutlich höher, die Gehälter schwarzer und weißer Frauen entwickeln sich sogar immer weiter auseinander. Auch bekleiden weiße Amerikaner und solche mit asiatischen Wurzeln sehr viel häufiger Stellen, die ihrem Bildungsstand entsprechen als Schwarze und Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund. Sie müssen oft sogar dann mit einfacheren Jobs leben, wenn sie einen Hochschulabschluss haben.

Die USA zerstören ihren Gründungsmythos

Daly und ihre Co-Autorinnen Lily Seitelman, Laura Choi und Shelby Buckman haben nun in ihrer Studie für das Washingtoner Brookings-Institut berechnet, um wie viel mehr die Wirtschaftsleistung seit 1990 zugelegt hätte, wären die Zahl der Hochschulabschlüsse, die Erwerbsquoten und Löhne für Schwarze und Weiße, Latinos und asiatische Amerikaner, Frauen und Männer über den gesamten Zeitraum identisch gewesen. Legt man nur die direkten Effekte zugrunde, wäre das Bruttoinlandsprodukt der Untersuchung zufolge um fast 23 Billionen Dollar höher ausgefallen, als es tatsächlich der Fall war. Das ist mehr, als die Vereinigten Staaten heute in einem ganzen Jahr insgesamt erwirtschaften. Berechnet man dann noch mit ein, dass ein solch deutlich produktiverer Arbeitskräftepool auch dramatisch höhere Investitionen nach sich ziehen würde, kommt man auf die Gesamtsumme von gut 51 Billionen Dollar, die den USA laut Studie an Wirtschaftsleistung entgangen sind.

Daly verweist darauf, dass sich das Problem in den kommenden Jahren noch verschärfen dürfte, weil der Anteil nichtweißer Amerikaner an der Gesamtbevölkerung wächst. Die USA, so die Notenbankchefin, verlören dadurch nicht nur im Wettbewerb mit anderen Staaten weiter an Boden, sie zersetzten vielmehr auch immer mehr ihren Gründungsmythos, wonach jeder Amerikaner gemäß seinen Fähigkeiten und seines Fleißes ein Anrecht auf wirtschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung habe. Politik und Wirtschaft müssten verstehen, dass es nicht darum gehe, den vorhandenen Kuchen anders zu verteilen. "Es geht darum, den Kuchen zu vergrößern."

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