Süddeutsche Zeitung

Renten und Gerechtigkeit:Wenn zu wenig zu viel wird

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Von Marc Beise

Alles hat seine Zeit - auch die Frage, welche Politik eigentlich gerecht ist. Noch im jüngsten Bundestagswahlkampf hatte der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz versucht, mit dem Thema soziale Gerechtigkeit zu punkten. Das hat bekanntlich nicht so recht geklappt. Die Stimmung im Land war einfach nicht so, dass sein Herzensanliegen auch Bürger und Wähler im gleichen Maße begeisterte. Für viele Beobachter kam das nicht wirklich überraschend. Schließlich erlebte die Republik seit der Finanzkrise 2008 einen langen, ungebrochenen wirtschaftlichen Aufschwung.

Nun, im Frühjahr 2019, da die Konjunktur zu lahmen beginnt, alle Experten die Wachstumserwartungen für dieses Jahr revidieren und die internationalen Verwerfungen zunehmen, versucht es die SPD erneut. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil hat einen Plan einer, wie er es mundgerecht formuliert, "Respekt-Rente" vorgelegt. Menschen, die 35 Jahre hart gearbeitet haben, soll der Staat eine Rente garantieren, notfalls durch Aufstockung der gesetzlichen Ansprüche auf bis zu 1000 Euro im Monat. Das sei einfach nur gerecht.

Tatsächlich hat eben auch in der Politik alles seine Zeit. Die Gerechtigkeitsfrage ist zurück: Wie der Staat den sozialen Ausgleich im Lande organisieren soll oder die Gerechtigkeit gar mehren könnte, ist zum Ausgang des Jahrzehnts wieder ein großes Thema geworden.

Unabhängig von der Frage, wie es ihnen heute persönlich konkret geht, wächst bei immer mehr Menschen die Furcht vor der Zukunft - der eigenen, der ihrer Kinder und Enkel, der des Landes. Und es wächst ein diffuser Zorn. Viele glauben, es gehe ausgesprochen ungerecht zu im Land. Werden die Reichen nicht immer reicher und die Armen immer ärmer? Die SPD (und auch die Union und andere Parteien tun es) müht sich, Antworten auf diese Frage - es ist die Frage nach der Gerechtigkeit in diesem Land - zu finden. Sie fallen, je nach Partei (und der Statistik, die man heranzieht) mal so, mal so aus.

Auch die AfD versucht Antworten zu geben. Sie mischt indes die soziale Gerechtigkeitsfrage zu einem diffusen Gebräu mit starken chauvinistischen Beimengungen: Ungerecht sei es doch, so ist zu hören, dass deutsche Rentner darben müssten, während sich Flüchtlinge vor staatlicher Zuwendung kaum retten könnten. Obwohl das eine nichts mit dem anderen zu tun hat, ist das Thema da - und mit ihm ein brisantes Ungerechtigkeitsempfinden.

Mit Angst und Zorn wachsen allerdings auch die Illusionen. So gibt es eine verbreitete Erwartung, dass mehr Geld für Soziales grundsätzlich gut angelegt ist. Die in vielen Ländern erprobte Realität sieht aber anders aus: Wenn Politik sich darauf konzentriert, soziale Wohltaten zu finanzieren, statt darauf, die Bedingungen der Wirtschaft zu verbessern, dann wächst die Armut und sinkt nicht. Ludwig Erhard, der Vater des deutschen Wirtschaftswunders in der alten Bundesrepublik, hat es einmal in die einfache Formel gefasst: Erst muss das Geld verdient werden, das dann ausgegeben werden kann.

Was zählt am Ende mehr: Bedarfs- oder Leistungsgerechtigkeit?

Viele Menschen glauben dagegen, dass es hierzulande zu wenig Sozialleistungen gebe und ein erheblicher Nachholbedarf bestehe. Doch das Gegenteil ist richtig. Die Sozialausgaben in Deutschland sind auf Rekordniveau angelangt, sowohl in absoluten Zahlen als auch in der Relation zu anderen Ausgaben des Staates. Die Ausgaben für Soziales machen mittlerweile ein knappes Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes aus: 29,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Im Jahr 1970 lag das Sozialbudget noch bei umgerechnet 84 Milliarden Euro, 1980 waren es schon 223 Milliarden, heute sind es fast eine Billion Euro. Allein seit 2011, das ist noch nicht lange her, sind die Sozialausgaben um ein Viertel gestiegen. Damit sind sie schneller gewachsen als die Wirtschaftsleistung. Größter Einzelposten ist die gesetzliche Rente, jene, die Minister Heil für bis zu vier Millionen Menschen weiter aufstocken will. Ohnehin fließen in die staatliche Rentenkasse Jahr für Jahr Steuergelder in zwei- und wohl bald dreistelliger Milliardenhöhe.

Umstritten ist dabei weniger der Wunsch, die Bedürftigen zu fördern, als das Verfahren, das Heil vorschlägt. Denn der Minister will auf die sonst im Sozialrecht weithin übliche Bedürftigkeitsprüfung verzichten, bei der man beim Amt seine Vermögensverhältnisse offenlegen muss. Der eine muss mit der Mini-Rente wirklich auskommen, der andere hat Vermögen: eine Immobilie, einen begüterten Ehepartner. Das nicht abzuklären und alle gleichzubehandeln, kann man wie der Minister respektvoll nennen, ob es gerecht ist, steht auf einem anderen Blatt.

Verletzt würde bei einer solchen Vergabe jedenfalls das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Es besagt: Wer viel in die Rentenkasse eingezahlt hat, bekommt auch viel heraus - und wer wenig eingezahlt hat, eben wenig. Das Prinzip aber soll am unteren Ende der Bezugsskala nicht mehr gelten. Leistungsgerechtigkeit würde vermischt mit der Bedarfsgerechtigkeit. Und noch eine weitere Kategorie der sozialen Gerechtigkeit käme hier ins Spiel: die Generationengerechtigkeit.

Wenn der Staat seine Mühen (und Ausgaben) noch mehr auf die Seniorengeneration konzentriert, schmälert er die Chancen der Jungen. Heute bereits werden massiv Lasten aufgebaut, die von der nächsten Generation, den jetzigen Kindern und jungen Erwachsenen und den noch gar nicht Geborenen, abgetragen werden müssen. Neben die in den amtlichen Statistiken ausgewiesene explizite Verschuldung von fast zwei Billionen Euro tritt eine um ein Mehrfaches höhere implizite Verschuldung durch Verpflichtungen, die die heutige Generation zulasten der nächsten eingeht.

Digitalisierung verändert die Arbeitswelt ohnehin schnell und gründlich

Ziemlich sicher indes werden Rentner künftig viel weniger Geld zur Verfügung haben als heutige. Sie werden mehrheitlich von der gesetzlichen Rente gar nicht mehr leben können. Auch diese Frage muss bedenken, wer heutige Ruheständler besser stellen will. Was also wäre gerecht?

Vielleicht führt der richtige Weg, aus diesem Dilemma herauszukommen, gar nicht über die Sozial-, sondern über die Wirtschaftspolitik. Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt ohnehin schnell und gründlich. Einerseits werden sich neue Möglichkeiten eröffnen. Neue Jobs entstehen, das Zusammenspiel von Arbeit und Familie könnte besser gelingen, und mehr Menschen (vor allem Frauen) erhielten die Chance zu arbeiten. Andererseits werden auch Jobs verloren gehen und neue soziale Engpässe entstehen. Um die klein zu halten, wäre es umso wichtiger, dass die Politik sich auf diese Umgestaltung konzentriert, dass sie die Menschen fit für die digitale Zukunft macht. Dabei geht es um Bildung, Ausbildung, Weiterbildung, kurz um Themen, die junge Leute und Menschen im arbeitsfähigen Alter betreffen - und nicht die Alten.

Wer sich um das Wohlstandsniveau in Deutschland sorgt, sollte vor allem Zahl und Qualität der Jobs im Blick haben. Wenn es nicht gelingt, in den kommenden Jahren die meisten Menschen in Arbeit zu halten, dann werden auch alle verfügbaren Sozialleistungen nicht viel helfen. Dann wird es erst richtig ungerecht im Land.

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Quelle:
SZ vom 09.02.2019
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