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Rentenpflicht für Selbständige:Aus dem Nagelstudio in die Altersarmut

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Selbständige sollten künftig für das Alter vorsorgen müssen, fordert der Sozialminister. Das ist richtig. Denn es gibt wegen der Agenda-Reformen immer mehr Einzelkämpfer, die nicht genug verdienen und vorsorgen.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Selbständige üben ihren Beruf oft mit besonderem Einsatz aus. Ob Ärzte, Architekten oder der Bäcker um die Ecke: Sie sind unverzichtbar für eine Volkswirtschaft, in der die Mehrheit das weniger riskante Angestelltendasein vorzieht. Dieses Engagement rechtfertigt allerdings nicht, dass die Politik Selbständige in der Alterssicherung gegenüber normalen Arbeitnehmern bevorzugt. Deshalb ist es richtig, dass Sozialminister Hubertus Heil (SPD) noch für dieses Jahr ein Gesetz ankündigt, um das zu ändern: Freiberufler und andere unternehmerisch Tätige sollen sich fürs Alter absichern.

Was selbstverständlich klingt, ist es für die Selbständigen unverständlicherweise nicht. Viele haben im Alter überdurchschnittlich viel Geld. Andere aber sorgen nicht ausreichend vor, um im Ruhestand davon leben zu können. Der Masse der angestellten Arbeitnehmer dagegen wird die Entscheidung abgenommen. Sie muss Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zahlen, ob sie will oder nicht. Weil das Ganze als Umlagesystem konstruiert ist, fließt dieses Geld an die Ruheständler von heute. Die Arbeitnehmer müssen sich darauf verlassen, dass die Arbeitnehmer von morgen ihre Renten finanzieren. Was angesichts immer längerer Lebenszeit bei geringer Geburtenrate unsicher erscheint.

Freiberufler wie Ärzte oder Anwälte dagegen müssen nicht in die Rentenversicherung. Sie zahlen meist in berufsständische Einrichtungen. Und profitieren so von Erträgen durch Aktien oder Immobilien, die diese Organisationen - anders als die gesetzliche Rentenkasse - nutzen. Das ist ein Vorteil gegenüber normalen Arbeitnehmern, die sich auf die Umlage verlassen müssen. Außerdem bleibt Freiberuflern meist vom Einkommen viel, um Vermögen für die späten Jahre zu bilden.

Dann gibt es noch eine Gruppe von Selbständigen, die völlig frei für den Ruhestand vorsorgt - oder eben nicht. Die "eben nicht" haben erschreckend zugenommen. Das hängt mit den Agenda-Reformen der Nullerjahre zusammen, als Arbeitslose ermutigt wurden, Nagelpflege oder Handwerkerleistungen anzubieten. Gleichzeitig drängen Unternehmen angestellte Lkw-Fahrer in die Selbständigkeit oder lagern Aufgaben an vogelfreie Clickworker am heimischen Laptop aus.

Zur Wiedervereinigung gab es eineinhalb Millionen solcher Einzelkämpfer ohne Mitarbeiter. Zwanzig Jahre später waren es fast doppelt so viele. Mehr als die Hälfte von ihnen scheint nicht für den Ruhestand abgesichert, erforschte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Wenn die Einzelkämpfer nicht genug verdient und vorgesorgt haben, finanziert sie im Alter die Allgemeinheit: durch eine Art Sozialhilfe für Senioren.

Das ist unfair gegenüber den angestellten Arbeitnehmern, die all die Jahre ihre Rentenbeiträge gezahlt haben. Deshalb will die Bundesregierung künftig zurecht eine Versicherungspflicht vorschreiben. Selbständige sollen in eine berufsständische Einrichtung einzahlen, in einen Rürup-Vertrag - oder eben in die gesetzliche Rentenkasse. Der Sozialdemokrat Heil spricht von drei Millionen Selbständigen, die fürs Alter nicht abgesichert seien. Es ist auch in ihrem eigenen Interesse, dies zu ändern.

Wie die ersten Reaktionen zeigen, stoßen Heils Pläne sowohl bei der Opposition grundsätzlich auf Zustimmung wie bei der Union, mit der sie im Koalitionsvertrag vereinbart sind. Deshalb könnten sie relativ unverändert bald Gesetz werden. Das unterscheidet sie von den SPD-Vorstößen zur Grundrente und einer Rentengarantie bis 2040, über die öffentlich so gestritten wird.

Deutschlands Rentensystem braucht eine große Grundsatzreform

Mit der politischen Harmonie wäre es aber wohl bald vorbei, wenn man die Selbständigenfrage einen sinnvollen Schritt weiterdenkt. Das Alterssystem steht vor einer historischen Herausforderung, weil die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Beruf ausscheiden. Auf jeden Senioren kommen bald statt drei nur noch zwei Arbeitnehmer, die die gesetzlichen Renten finanzieren - nach dem Krieg waren es noch sechs. Deshalb braucht es eine große Reform, damit weder die Altersbezüge schrumpfen noch die jüngeren Deutschen bei der Finanzierung geschröpft werden.

Diese Reform sollte die ganze Gesellschaft solidarisch schultern: durch eine gemeinsame Rentenversicherung, zu der genauso die häufig gut verdienenden Freiberufler wie Anwälte und Ärzte gehören (und außerdem Beamte). Dann wird die Last der Alterung auf alle Schultern verteilt. Wer das für Sozialismus hält, schaue in die Schweiz: Dort zahlen Selbständige selbstverständlich in die allgemeine Rentenkasse.

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Quelle:
SZ vom 08.04.2019
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