Süddeutsche Zeitung

Martin Werding:Herr der Rentenlöcher: Das ist der neue Wirtschaftsweise

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Der Ökonom Martin Werding rechnet den Deutschen vor, wie viele Milliarden demnächst in Alters- und Staatskassen fehlen. Seine Berufung wertet das wirtschaftspolitische Gremium der Bundesregierung auf .

Von Alexander Hagelüken

Die Schlagzeile klang bedrohlich, sie war ein klassischer Martin Werding. Schon in gut zehn Jahren, warnte der Ökonom vor kurzem in einer Studie, werden Arbeitnehmer richtig zur Kasse gebeten. Dann würden für Rente, Krankenkasse und andere Systeme Beiträge von fast der Hälfte ihres Einkommens fällig - falls die Politik nicht handele. Die Deutschen können sich nun auf noch mehr solcher Weckrufe einstellen, und zwar von prominenter Stelle. Martin Werding soll in den Sachverständigenrat rücken, das wichtigste wirtschaftspolitische Beratergremium der Bundesregierung. Dort hatte der leicht beleidigte Abgang des Geldpolitik-Cracks Volker Wieland eine Lücke gerissen.

Werdings Expertise sind Soziales und öffentliche Finanzen. Das beackert er nach einer Zeit am Münchner Ifo-Institut seit 2008 als Professor in Bochum. Trifft man den 58-Jährigen dort zum Gespräch, holt er einen netterweise am Bahnhof ab. Es geht in ein Lokal in der Nähe, wo sich nicht nur in Ruhe reden, sondern auch gut essen lässt. Nichts gegen Bochum! Werding pendelt trotzdem aus München her, der Familie wegen. Nach dem Essen geht es noch in ein Cafe, weil da der Kaffee besser schmeckt. Vorher muss Werding dringend eine rauchen. Das verleiht dem betont rationalen Mann kurz etwas Leichtfertiges.

Während manche Ökonomen theoretisieren oder auch mal rumlabern, ist Werding ein großer Rechner. Präzise kalkuliert der Herr der Rentenlöcher, dass das Altern der Bevölkerung "die Ausgaben regelrecht explodieren" lässt. Das bedeutet riesige Finanzlücken in Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Aber nicht nur dort. Er sagte schon 2018, also vor den hohen Ausgaben in der Corona-Krise: "Die Staatshaushalte sind nicht tragfähig." Schaue die Politik weiter weg, stiegen die Staatsschulden bis zum Jahr 2060 über 200 Prozent der Wirtschaftsleistung - mehr als heute Griechenland.

Traditionell dürfen die Gewerkschaften und die Arbeitgeber je einen der fünf Wirtschaftsweisen vorschlagen. Es liegt auf der Hand, warum die Arbeitgeber Werding als Nachfolger von Volker Wieland vorschlagen. Ob die Staatsschulden ausufern und wie die Sozialversicherung bezahlbar bleibt: das sind zwei der Großthemen der nächsten Jahre. Werding hat die Rechnungen dazu, und die Konzepte. Für die Arbeitgeber führte er ab 2019 eine Sozialstaatskommission, die vorschlug, mit steigender Lebenserwartung auch das Rentenalter zu erhöhen. Und für die FDP kalkulierte er die Aktienrente, die die Ampel-Koalition einführt.

Nach Werdings Berufung fehlt nun noch ein fünfter Mann oder eine fünfte Frau, damit die Wirtschaftsweisen komplett sind

Solche Rollen legen nahe, Werding im politischen Farbenspiel als marktliberal zu etikettieren. Aber das wäre zu einfach. Der in München lebende Rheinländer mit Arbeitsplatz in Bochum ist ein Rechner, kein Ideologe. Er brilliert in seinen Fachgebieten, statt seinen Senf auf jedes Thema von Inflation bis Gas-Embargo zu drücken. Das erschwert es, ihn politisch einzuordnen. Natürlich schmeckt es der SPD nicht, dass es Werding als unfinanzierbar entlarvt, dass die Sozialdemokraten die Rentensteigerungen trotz Alterung keinesfalls antasten wollen. Aber die Rentenpolitik von CDU-Kanzlerin Angela Merkel war 16 Jahre lang genauso zukunftsvergessen.

Werdings sachorientierte politische Haltung ist interessant, weil sich der Sachverständigenrat in den vergangenen Jahren entideologisiert hat. Mit Wieland und den früheren Chefs Lars Feld und Christoph Schmidt gab es lange eine marktliberale Mehrheit, die Staatseingriffe wie den Mindestlohn automatisch verdammte. Diese Mehrheit schwand durch die Berufung der politisch nicht betonhart festgelegten Ökonominnen Monika Schnitzer und Veronika Grimm. Beim Gutachten 2021 gab es ein 2:2 Unentschieden zur Frage, ob die Regierung mehr Schulden machen soll. Nach Werdings Berufung fehlt nun noch ein fünfter Mann oder eine fünfte Frau, damit die Wirtschaftsweisen komplett sind.

Männer, die sich für klug halten, hämmern ihre Ansichten gerne auf die Bühne. Werding dagegen fehlt jede Bollerigkeit. Er redet ruhig, abgewogen, bedacht. Fast muss man fürchten, dass er sich als Wirtschaftsweiser zu wenig an Fernsehmikrofone drängen wird, weil da schon lauter laute Ökonomen stehen. Es wäre aber schade, wenn die Deutschen nicht hören würden, was Martin Werding zu sagen hat.

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