Süddeutsche Zeitung

Osteuropa:Der Balkan blutet aus

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Die Balkanländer leiden unter ökonomischer Schwäche und Vetternwirtschaft. Viele junge, gut ausgebildete Menschen verlassen die Region - und verschlimmern so die Lage in ihrer Heimat.

Von Florian Hassel, Belgrad

Ein halbes Jahr ist vergangen, seit Rosita und Sande Dzambazov ihre Tochter Aneta und den Schwiegersohn Ivica zum Flughafen gebracht und ihnen Erfolg fern der Heimat gewünscht haben. Seit Dezember 2016 versuchen Aneta, eine 32 Jahre alte Ärztin, und Maschinenbauer Ivica, sich ein neues Leben in Berlin aufzubauen. "Unsere Tochter und unser Schwiegersohn haben fleißig gelernt und eigentlich alles richtig gemacht - aber für Qualifizierte und Engagierte gibt es bei uns in Mazedonien keine Jobs", sagen die Dzambazovs, die in der Hauptstadt Skopje leben.

Ein paar Hundert Kilometer weiter, in Serbiens Hauptstadt Belgrad, hat sich Nina Vuković von Vater Miodrag verabschiedet. "Papa, ich will nicht mehr in diesem Land leben", sagte sie, bevor sie in einen Bus nach Wien stieg. Seit einem Jahr schlägt sich die 31 Jahre alte studierte Geografin in Österreichs Hauptstadt als Kellnerin durch. "So wie mir geht es vielen Serben", sagt Vuković, ein 70 Jahre alter Rentner. "Wir sehen unsere Kinder nur noch auf Skype, weil sie es in diesem Land nicht mehr aushalten."

Ob in Athen oder Bukarest, Sofia, Sarajevo oder Zagreb: Überall auf dem Balkan wiederholt sich, trotz nominell wachsender Volkswirtschaften, die Geschichte der Vukovićs oder Dzambazovs. Niedrige Gehälter, hohe Arbeitslosigkeit, geringe Innovation und verbreitete Vetternwirtschaft bringen junge Menschen auf dem Balkan dazu, ihre Heimat zu verlassen. Ein Schritt, der ihnen umso leichter fällt, als wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland oder Österreich schnell zu erreichen sind; ein Schritt, der umso fataler für ihre Heimatländer ist, als die arbeitsfähige Bevölkerung auf dem Balkan ohnehin fast überall abnimmt.

Nirgendwo in Europa wandern, gemessen an ihren Bevölkerungen, so viele der Jungen und Besten aus wie aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens; aus Albanien und Griechenland, Bulgarien und Rumänien. Geht es darum, Talente im Land zu halten, sehen die Wettbewerbsexperten des Davoser Weltwirtschaftsforums alle Balkanländer abgeschlagen.

Serbien, mit gut sieben Millionen Einwohnern der größte Nachfolgestaat Jugoslawiens, teilt sich gar unter 138 untersuchten Ländern mit Venezuela den letzten Platz. Vladimir Grečić von der Universität Belgrad schätzt die Zahl im Ausland lebender Serben heute schon auf bis zu 3,5 Millionen, und das Auswanderungstempo nimmt zu: 2014 wanderten 58 000 Serben aus - mehr als doppelt so viele wie etwa 2007.

Das liegt auch an der hartnäckig hohen Jugendarbeitslosigkeit: Jeder vierte junge Kroate bleibt ohne Job, jeder zweite junge Grieche oder Mazedonier, und im Kosovo findet von drei Jungen gar nur einer Arbeit. Die Arbeitsmärkte sind oft starr und dienen vor allem Älteren, die bereits einen Job haben - oft genug im Staatsdienst. Ökonomen zufolge arbeiten von zwei Millionen offiziell beschäftigten Serben eine halbe Million für die staatlichen Verwaltungen, noch einmal 300 000 in überbesetzten, meist wenig effektiven Staatsfirmen. Neue, aber oft wenig attraktive Jobs gibt es, wenn überhaupt, oft nur beim Handel und Dienstleistern.

In Belgrad entsteht ein Einkaufszentrum nach dem anderen - andere Städte sind wirtschaftliches Krisengebiet. In Smederevska Palanka, 80 Kilometer südöstlich von Belgrad, hat der Elektriker Milan Vujičić noch Zeiten mit "sieben, acht großen Fabriken" erlebt. Heute ist nur noch Vujičićs Unternehmen übrig: das Eisenbahnwaggonwerk Goša, das freilich von einer Krise in die andere taumelt und statt wie früher Tausender nur noch 350 Arbeiter beschäftigt. Im Frühjahr machte Goša Schlagzeilen, als sich Vujičićs Kollege Dragan Milanovic umbrachte: Er hatte angesichts hoher Lohnrückstände nicht mehr gewusst, wie er seine Familie ernähren sollte. Elektriker Vujičić führte die Arbeiter der Traditionsfabrik zum Streik, der sogar Ministerpräsident Aleksandar Vučić - seit dem 31. Mai Serbiens Präsident - zum Besuch zwang. In den kommenden Monaten soll nun der Eigentümer ausstehende Gehälter in Raten auszahlen.

Doch es ist nicht der erste Streik angesichts ausstehender Löhne und nicht das erste Mal, dass nun angeblich alles besser werden soll. "Ich glaube deshalb nicht, dass die Versprechen auch erfüllt werden", sagt Vujičić. Sein Gehalt beträgt nach 31 Berufsjahren umgerechnet 204 Euro im Monat; dass es vollständig ausgezahlt wird, hat der Elektriker seit Jahren nicht erlebt. Allein ihm schulde die kriselnde Firma, die früher Eisenbahnwaggons für den ganzen Balkan baute, aber jetzt kaum noch Aufträge bekommt, umgerechnet 5700 Euro, so Vujičić. "Wir überleben, weil ich als Elektriker privat dazuverdiene, mein eigenes Gemüse ziehe und Hühner und Schweine halte, wie fast alle hier." Tochter Jovana und Sohn Miloš haben trotz abgeschlossener Studien in Belgrad nur Jobs als Verkäufer in einer Bäckerei und in einer Elektrokette gefunden - und verdienen weniger als 400 Euro im Monat. Angesichts solcher Perspektiven "ziehen viele Junge gleich ganz weg", sagt Milan Vujičić.

Einfach ist dies etwa für Krankenschwestern, Altenpfleger oder Ärzte aus den EU-Ländern Rumänien, Bulgarien oder Griechenland, die freie Stellen in deutschen Krankenhäusern oder Pflegediensten übernehmen. Auch mit Serbien und Bosnien hat die Bundesregierung entsprechende Abkommen geschlossen: Allein aus Serbien wandern jedes Jahr Tausende medizinische Fachkräfte nach Deutschland aus, berichtete der Infodienst Autonomija aus der Region Vojvodina. Die Gründe seien einfach, sagte Ranka Ješić von der Krankenschwestergewerkschaft: In Serbien verdienten Krankenschwestern durchschnittlich 284 Euro - in Deutschland 1950 Euro, plus Zuschläge für Nachtschichten oder Sonntagsdienst. Außerdem, so Ješić, gebe es in Deutschland keinen "politischen Nepotismus".

Studenten müssen in die Staatspartei eintreten, wenn sie einen Job wollen

Der steht in Serbien vor allem für Aleksandar Vučić und die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS). Deren Einfluss reicht über Staatsapparat und staatliche Firmen hinaus: Die 35 Jahre alte Belgrader Juristin Maria Milovanović verlor nach ihren Angaben ihren Job bei einer privaten, aber regierungsnahen Bank, "weil ein SNS-Parteimann versorgt werden sollte - auch ohne die notwendige Qualifikation für diesen Job". Der 21 Jahre alte Student Alexandar Nedjelkovic kommt aus Niš im Süden Serbiens "Als Vučić im Wahlkampf an die Universität Niš kam, haben die Professoren den Studenten eingeschärft, dass sie nichts gegen Vučić sagen dürften, wenn sie nicht von der Uni fliegen wollten. Meine Freunde, die mit dem Studium fertig sind und Jobs suchen, bekommen zu hören, dass sie erst einmal in die SNS eintreten sollen. Viele von ihnen wollen Serbien verlassen."

In anderen Balkanländern wie Rumänien, Bosnien und Herzegowina oder Mazedonien ist die politische Vetternwirtschaft ebenfalls verbreitet - und treibt die Auswanderung zusätzlich in die Höhe. Der Internationale Währungsfonds stellte 2016 in einer Studie über Auswanderung einen "bedeutenden negativen Zusammenhang" zwischen Regierungsqualität und Auswanderung fest: Korruptionsbekämpfung, Rechtsstaat und andere Merkmale für gutes Regieren seien in Südosteuropa "spürbar schwächer" als etwa in Zentraleuropa oder dem Baltikum - und die Auswanderung gut ausgebildeter Jüngerer deutlich stärker.

Auch Nina Vuković, die nach Wien ausgewanderte Geografin, hatte Vater Miodrag zufolge "genug von unserem allgegenwärtigen Nepotismus". Student Nedjelkovic hat bis zum Examen und Arbeitssuche noch zwei Jahre vor sich. "Ich kann nur hoffen", sagt er, "dass es bis dahin bei uns besser wird und ich nicht auswandern muss."

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Quelle:
SZ vom 16.06.2017
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