Süddeutsche Zeitung

Griechenland:Spart! - Nein! Gebt Geld aus!

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Warum sich die Ratschläge der amerikanischen und deutschen Ökonomen so stark widersprechen.

Von Claus Hulverscheidt, New York, und Alexander Hagelüken, New York

Die vielleicht beste Nachricht dieser erneut grässlichen Griechenland-Woche kam für Angela Merkel aus dem fernen New York. Paul Krugman, Star-Ökonom und notorischer Quälgeist, kündigte an, er brauche Urlaub und werde eine mehrtägige Fahrradtour unternehmen. Er komme deshalb nicht dazu, seinen Blog und seine Kolumne für die New York Times zu schreiben - jene viel gelesenen Werke, in denen der Nobelpreisträger zuletzt beinahe täglich Gift und Galle gegen Merkels vermeintlichen Sparwahn spuckte. Es sei "ein Akt monströser Torheit", dass es die Gläubigerstaaten mit Griechenland und dem Euro so weit hätten kommen lassen, schleuderte er der Kanzlerin noch hinterher, bevor er sich aufs Rad schwang und verschwand.

Nun könnte es Merkel wurscht sein, was irgendein amerikanischer Ökonomieprofessor von ihrer Politik hält, gäbe es da nicht zwei Probleme: Erstens sind es in Amerika nicht nur politisch links stehende Wirtschaftswissenschaftler wie Krugman, die das Krisenmanagement der Europäer für falsch halten, es ist vielmehr - quer durch alle Denkschulen - praktisch die gesamte Zunft. Und zweitens haben die vielfach prämierten US-Ökonomen nicht nur immensen Einfluss auf die Meinungsbildung daheim, sondern auch in Europa. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass das Verständnis für Merkels harte Haltung in der Griechenland-Frage weltweit immer weiter sinkt.

Im Grunde geht es um die alte Frage nach der Henne und dem Ei

Die Kanzlerin ist dabei in einer gleich mehrfach unkomfortablen Situation, denn ihr stehen gleichzeitig deutsche Zahlendeuter wie Ifo-Chef Hans-Werner Sinn auf den Füßen, von Euro-Skeptikern wie Bernd Lucke oder Joachim Starbatty ganz zu schweigen. Sie empfinden Merkels Vorgehen in der Euro-Krise nicht als zu hart, sondern im Gegenteil als zu weich und sehen Milliarden an deutschen Steuergeldern im griechischen Sumpf verschwinden. Obwohl sie dieselben Fächer studiert haben wie ihre amerikanischen Kollegen, könnten die Differenzen größer nicht sein. Politikern wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble macht es diese Vielstimmigkeit leicht, selbst über Nobelpreisträger die Nase zu rümpfen.

Im Grunde geht es in dem Streit zwischen der Bundesregierung und ihren US-Kritikern um die alte Frage nach der Henne und dem Ei. Während Merkel und Schäuble der Meinung sind, dass gesunde Staatsfinanzen die Voraussetzung für dauerhaftes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum sind, sehen es die Volkswirte genau anders herum: Für sie muss zunächst Wachstum da sein, notfalls auch solches, das vom Staat auf Pump finanziert ist. Erst dann - und nur dann - kann die Sanierung des Haushalts gelingen, ohne dass es zunächst zu einem massiven Konjunktureinbruch und Massenarbeitslosigkeit kommt. Wer recht hat in dem Streit, ist eine Glaubensfrage, die Diskussion dreht sich seit Jahren im Kreis.

Was die Amerikaner an Europa vor allem stört, ist die vermeintliche Schicksalsergebenheit, mit der die Politik jahrelange Rezessionen und Jugendarbeitslosenquoten von bis zu 50 Prozent erträgt. Den Verantwortlichen mangelt es demnach an Entschlossenheit und Führungskraft, im amerikanischen "leadership" genannt, - und an der Bereitschaft, eine Doktrin in der Not einfach über Bord zu werfen.

Wie Pragmatismus und Tatkraft für US-Ökonomen aussieht, bewies 2008 der damalige, bei den Professoren ansonsten wenig beliebte Präsident George W. Bush. Als nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers einer Reihe von weiteren Geldhäusern der Kollaps drohte, wurden die Institute ohne viel Federlesens geschlossen, verstaatlicht, rekapitalisiert oder zwangsfusioniert - und Jahre später mit Gewinn wieder verkauft. In Deutschland hingegen leistete man sich zunächst eine quälende Grundsatzdiskussion darüber, was die Regierung in der Not darf und was nicht. Erst mit langer Verzögerung und zu viel höheren Kosten wurden dann die HRE ganz und die Commerzbank teilweise verstaatlicht.

Europa, der passive Kontinent

Es ist diese Art der Zögerlichkeit, die dazu geführt hat, dass US-Ökonomen Europa mittlerweile für den passiven Kontinent halten - einen Kontinent, der sich stets mit zu wenig zufrieden gibt, der in vielen Zungen spricht, sich permanent im Geflecht seiner Institutionen verheddert und sein wirtschaftliches wie politisches Potenzial nicht ausschöpft. Edmund Phelps von der New Yorker Columbia-Universität wundert es deshalb kaum, dass Smartphones und all die anderen Kassenschlager der IT-Industrie heute aus den USA und Asien kommen - und nicht aus Europa. "Europas Wirtschaft ist zu mechanistisch, zu roboterhaft, zu passiv, sie lässt zu wenig Kreativität zu", sagte er jüngst bei einer Podiumsdiskussion mit Schäuble in New York.

Für ähnlich passiv, verstockt und unflexibel halten die US-Ökonomen auch die europäischen Politiker, allen voran die deutsche Kanzlerin. Zwar bewundert etwa Robert Shiller von der Universität Yale Merkel dafür, dass sie ganz Europa auf ihren Kurs gebracht hat. "Aber ihre Sparpolitik", so der keineswegs zu Krawall neigende Shiller schon vor zweieinhalb Jahren in einem Interview, "hat Europa geschadet".

Krugman ist da sehr viel radikaler, er rät Athen mittlerweile dazu, den "Wahnsinn" hinter sich zu lassen und zur Drachme zurückzukehren. "Schlimmer als ein Euro-Austritt wäre es, wenn die Troika die verfehlte Politik der vergangenen fünf Jahre ad infinitum fortsetzt", schrieb er am Sonntag in seinem vorerst letzten Blog-Eintrag. Er widerspricht auch der Behauptung der Bundesregierung, dass ihre Medizin mit Ausnahme des Falls Griechenland in allen Krisenstaaten gewirkt habe - also in Irland, Portugal, Spanien und Zypern. "Ein paar Quartale Wachstum in einigen der Schuldnerländern können die massiven Kosten von fünf Jahren Massenarbeitslosigkeit nicht überdecken", so Krugman.

Ins gleiche Horn stößt Joseph Stiglitz, früher Chefökonom der Weltbank und heute ebenfalls Professor an der Columbia-Universität. "Mehrere europäische Staaten stecken immer noch in einer Depression - und ich verwende diesen Begriff mit voller Absicht", schimpfte er jüngst bei derselben Podiumsdiskussion mit Schäuble, an der auch Phelps teilnahm. "Die Arbeitslosenrate in der Euro-Zone liegt im Schnitt bei zwölf Prozent, die Jugendarbeitslosenrate bei 25 Prozent, in Spanien gar bei 50 Prozent. Hier wird eine ganze Generation zerstört." Die Art, wie vor allem Merkel und Schäuble die Krise managten, werde "Europas Wachstumspotenzial nachhaltig beschädigen".

Dabei plädieren Stiglitz und seine Kollegen nicht etwa dafür, dass der Staat mit geliehenem Geld konjunkturelle Strohfeuer entfacht. Es müsse aber endlich mehr investiert werden - in Bildung, Infrastruktur und Technologie. Schließlich nutze es niemanden, wenn eines Tages in ganz Europa die Haushalte saniert seien, gleichzeitig aber Schulen, Straßen und Brücken verfielen.

Das sieht Kenneth Rogoff, Professor in Harvard, Ex-Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und gewiss kein Linksradikaler, nicht anders. Zwar wählt er seine Worte mit mehr Bedacht als Krugman und Stiglitz, ja, er bringt sogar Verständnis für Merkels innenpolitische Nöte auf. Zugleich jedoch hält auch er die in Berlin erdachten Sparauflagen für die Euro-Krisenländer für zu hart und einen radikalen Schuldenschnitt in Griechenland für unumgänglich.

Wachstumsanreize? Ja, aber

Dagegen orientiert sich die Denkweise der meisten deutschen Ökonomen auch an der Tradition der Ordnungspolitik - und der Bundesbank, die solide Finanzen für die Basis von Wachstum und Wohlstand hält. Das fröhliche deficit spending der Amerikaner ist vielen deutschen Kollegen suspekt, und im Streit um Griechenland sehen sie weit mehr Fehler bei der Regierung Tsipras als bei der Regierung Merkel. Griechenland, so die verbreitete Meinung, werde nicht durch Ausgaben auf Pump gesunden, sondern nur durch eine Reform der rückständigen Wirtschaft mit ihren Monopolen, Bürokratieexzessen, Frühverrentungen und Beamtenheeren. Und sie halten die Erfolgsmeldungen aus Spanien, Irland und den anderen Krisenstaaten nicht für Schein, sondern für vorbildlich - gerade für die Hellenen.

Ein Beispiel für diese Denkweise ist Clemens Fuest, der Präsident des Mannheimer ZEW-Instituts, der nicht zu den Radikalen im Lande zählt und anders als etwa Ifo-Chef Sinn auch nicht den Euro-Austritt der Griechen verlangt. Doch obwohl er jahrelang in Oxford lehrte, klingt auch Fuest ganz anders als die angelsächsischen Kollegen. Die Griechen könnten nur im Euro gehalten werden, wenn sie zu Reformen bereit seien, sagt er im Gespräch mit der SZ. Wachstumsanreize? Ja, aber: "Bei staatlichen Investitionsprogrammen bin ich skeptisch." Und der Schuldenschnitt, den die Amerikaner für unverzichtbar halten? "Die Schulden werden überbetont", sagt Fuest. "Der Schuldendienst war in Griechenland niedriger als in Portugal oder Italien, als die Regierung Tsipras drankam. Die Euro-Partner haben den Griechen durch niedrige Zinsen und späte Rückzahlung schon sehr geholfen."

In den USA gelten solche Ansichten als viel zu zaghaft. Die ersten US-Ökonomen flüchten sich angesichts der scheinbar nicht endenden Euro-Krise bereits in Sarkasmus, so etwa Barry Eichengreen von der Berkeley-Universität in Kalifornien. "Als ich vor zehn Jahren vorausgesagt habe, dass der Euro-Austritt eines Landes immer unwahrscheinlicher wird, habe ich die Rolle der Politik unterschätzt", so Eichengreen vor einigen Tagen in einem Wissenschaftsdienst. "Genauer gesagt: Ich habe das Maß an politischer Inkompetenz unterschätzt - seitens der griechischen Regierung, aber noch mehr seitens der Geldgeber."

Allzu große Hoffnungen, dass die Amerikaner bald Ruhe geben werden, sollte sich Merkel nicht machen. Auch Krugman lässt nicht locker. Er erklärte, er hat die Dinge auf seiner Fahrradtour "logistisch so arrangiert", dass er auch von unterwegs zumindest eine Kolumne hinbekommen werde. Schon an diesem Freitag soll sie erscheinen.

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Quelle:
SZ vom 10.07.2015
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