Süddeutsche Zeitung

Konsum:Die Vermessung des Kunden

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Immer mehr US-Unternehmen lassen sich von Spezialisten berechnen, wie viel ihnen ein Konsument bis zum Tod einbringen wird. Wer viel wert ist, wird beim Einkauf hofiert - der Rest ignoriert.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Wenn nur die grässliche Musik nicht wäre. Die fröhlich dahergeplapperten Durchhalteparolen und "Wussten Sie schon?"-Sprüche, das Knacken in der Leitung, das jedes Mal die trügerische Hoffnung weckt, ein echtes menschliches Wesen werde sich am anderen Ende melden und die Tortur beenden. Doch wieder nichts: Zum zehnten Mal in 30 Minuten beginnt die Dudelei von vorn, und der Anrufer fragt sich verzweifelt, warum er schon wieder in der Telefonwarteschleife festhängt, wo doch die Nachbarin immer sofort durchgestellt wird. Klar, kann Zufall sein - aber vermutlich ist es keiner, zumindest nicht in den USA. Weitaus wahrscheinlicher ist: Die Nachbarin hat einen deutlich höheren CLV.

CLV, das steht für "customer lifetime value", zu Deutsch: "Kundenlebenszeitwert" - ein neues machtvolles Marketinginstrument, das Unternehmen in den Vereinigten Staaten so elektrisiert wie es Verbraucherschützer alarmiert, denn einen ähnlich groß angelegten Angriff auf die Privatsphäre von Millionen Flug-, Telefon-, Einzelhandels- und sonstigen Kunden dürfte es selbst in der US-Wirtschaftsgeschichte mit ihren dauernden Datenskandalen bisher nicht gegeben haben. Immer mehr Firmen lassen anhand Dutzender, Hunderter, gar Tausender persönlichen Daten berechnen, wie viel ihnen ein einzelner Käufer über sein gesamtes "Kundenleben" wohl in Dollar und Cent einbringen wird. Kommt jemand auf einen hohen CLV, wird er umgarnt und gepflegt, erhält Rabatte, Hochstufungen, persönliche Hotline-Ansprechpartner und andere schicke Sonderleistungen. Ist der Wert dagegen niedrig, fristet der meist ahnungslose Konsument fortan ein Leben in der Telefonschleife.

"Viele Unternehmen glauben, dass Kunde gleich Kunde ist. Aber das stimmt nicht."

Dass Unternehmen Verbraucher in unterschiedliche Kategorien einteilen, ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Wer früher Stammkunde im Tante-Emma-Laden um die Ecke war, bekam selbst in Berlin mit seinen notorisch übellaunigen Verkäufern einmal ein paar Kartoffeln oben drauf, fand die Brötchentüte beim Betreten des Geschäfts schon fertig gepackt vor oder konnte anschreiben lassen. Gelegenheitsbesucher hingegen mussten mit einem Mindestmaß an Freundlichkeit auskommen und damit rechnen, auch einmal von der Seite angepflaumt zu werden: "Wat anjefasst wird, wird ooch jekooft."

Die modernen Kundenbewertungen in den USA jedoch haben mit derlei schnoddrig-eindimensionaler Kauzigkeit nichts mehr gemein. Heute führen Modehäuser, Mobilfunkanbieter, Kreditkartenfirmen, Hotelketten, Fluggesellschaften, Autohändler und viele andere Firmen nicht nur akribisch Buch darüber, wer in den vergangenen Jahren was wann wo wie oft gekauft oder gebucht hat. Vielmehr beauftragen sie Analyseunternehmen damit, bei sogenannten Datenbrokern weitere persönliche Informationen über einzelne Konsumenten zu erwerben, die Vielzahl an Informationen zu gewichten und daraus individuelle Kundenlebenszeitwerte zu berechnen. Der Marketingdienstleister Zeta Global etwa, das jüngste Start-up des früheren Apple- und Pepsi-Chefs John Sculley, bietet angeblich Profile von 700 Millionen Menschen an, die auf mehr als 2500 Einzelinformationen beruhen - pro Person.

Der Fundus, aus dem die Analytiker mittlerweile schöpfen können, ist beinahe unendlich groß. Die Experten wissen, wer wie oft Waren reklamiert, bei Hotlines anruft und in Online-Portalen über ein Unternehmen herzieht. Sie kennen die Lieblingsgeschäfte, die Lieblingsrestaurants und -kneipen vieler Verbraucher, die Zahl ihrer "Freunde" bei Facebook, die Art und den Urheber von Anzeigen, die Social-Media-Nutzer angeklickt haben. Sie wissen, wer in den vergangenen Tagen die Webseite eines Konkurrenten des Auftraggebers besucht oder bestimmte Waren gegoogelt hat. Sie kennen die Hautfarbe, das Geschlecht, die finanzielle Lage eines Menschen, seine körperlichen Erkrankungen und seelischen Beschwerden. Sie wissen das Alter, den Beruf, die Zahl der Kinder, die Wohngegend, die Größe der Wohnung - schließlich ist es etwa für einen Matratzenanbieter durchaus interessant zu erfahren, ob ein Kunde Single ist oder im Fall der Fälle wohl gleich fünf Schaumstoffmatten für die gesamte Familie ordert.

Peter Fader, Professor für Marketing an der Universität von Pennsylvania und Miterfinder des CLV-Konzepts, räumt ein, dass die Verwendung von Kundenlebenszeitwerten für viele Menschen ein "bisschen unheimlich klingt, fast wie Hexenwerk." Für Firmen sei es jedoch von größter Bedeutung, sich nicht nur um die Entwicklung von Produkten, sondern mit der gleichen Intensität auch um die Belange der Kundschaft zu kümmern. "Viele Unternehmen glauben, dass Kunde gleich Kunde ist. Aber das stimmt nicht", sagt der frühere Versicherungsmathematiker. "Wenn man weiß, welche Kunden die größten Gewinne versprechen, kann man bei der Akquise und der Betreuung sehr viel zielgerichteter vorgehen und besonders treue Konsumenten durch eigens zugeschnittene Angebote und Rabatte an sich binden." Und damit nicht genug: Addiere man die Lebenszeitwerte aller Kunden auf, so der Wissenschaftler, sage die Summe oft mehr über die Zukunftsaussichten einer Firma aus als etwa der Aktienkurs.

Nach Faders Erfahrung hat jeder US-Bürger mit einem Bankkonto und einem Handyvertrag heute mindestens zwei, drei verschiedene CLVs. Wer dazu viel shoppt, reist und ausgeht, kommt leicht auf ein, zwei Dutzend und mehr. Bei einem hohen Kundenwert lässt einen die Kreditkarten- oder die Mobilfunkfirma beispielsweise nicht einfach ziehen, wenn man sich über sie geärgert hat und mit Kündigung droht. Stattdessen bietet die Firma eine attraktivere Karte oder ein kostenloses neues Smartphone an. Autofirmen stellen "wertvollen" Kunden teure Ersatzwagen zur Verfügung, Fluggesellschaften versetzen Konsumenten mit einem hohen CLV in eine bessere Klasse und ersetzen ohne jede Nachfrage den beschädigten Koffer.

Stammkundenprämien und Vorzugsbehandlungen gibt es natürlich auch in Europa. Dass Firmen aber aus Tausenden Daten einen konkreten "Lebenszeitwert" errechnen lassen, ist noch nicht verbreitet - was auch damit zu tun hat, dass Erhebung, Nutzung und Verkauf von Kundendaten durch die Datenschutz-Grundverordnung der EU viel stärker begrenzt ist als in den USA. Das heißt aber nicht, dass europäische Experten nicht über CLV-Konzepte nachdächten: "Ich weiß, dass etwa viele deutsche Kollegen an solchen Scores arbeiten", sagt Marketingprofessor Fader.

Wie es aussieht, wenn sich ein Unternehmen dem CLV-Konzept verschreibt, zeigt die neue New Yorker Vorzeigefiliale von Nike. Der Sportartikelhersteller hat in diesem Frühjahr Faders Datenanalyse-Firma Zodiac gekauft - und nutzt sie jetzt rege. Betritt ein Kunde mit Nike-App auf dem Smartphone den schicken, sechsstöckigen Laden an der Fifth Avenue, wird er von der Geofencing-Software erkannt und kategorisiert. Die Startseite der App ändert sich und anstelle von Online-Angeboten erscheinen auf dem Bildschirm Neuheiten, persönlich zugeschnittene Sonderangebote und Empfehlungen, die im Geschäft angeboten werden. Besonders treue Kunden erhalten gleich im Laden kleine Geschenke und können sich sämtliche Waren per Smartphone in die Umkleidekabine liefern lassen. "Zodiac und die von der Firma entwickelten Instrumente werden uns dabei helfen, unsere Beziehung zu den Kunden in aller Welt noch weiter zu vertiefen", so Nike-Chef Mark Parker im Frühjahr.

Tatsächlich: Mancher Kunde empfindet es wohl als Gewinn an Komfort und Annehmlichkeit, wenn er die Umkleidekabine gar nicht mehr verlassen muss, weil das Modehaus seine Kleidergröße, den persönlichen Geschmack und einzelne Vorlieben kennt. Auch haben die Amerikaner generell weniger Berührungsängste mit sogenannten "Scorings", schließlich bekommt jeder Bürger mehrmals im Jahr von der Bank seine aktuelle Kreditwürdigkeitsnote mitgeteilt. Und: Der Konsum spielt in der US-Gesellschaft eine noch viel größere Rolle als etwa in der deutschen - notfalls hat dabei auch die Privatsphäre zurückzustehen. "Ich kaufe, also bin ich" lautet das Lebensgefühl, das von der Dauerwerbung im Fernsehen, aber auch von vielen Politikern vermittelt wird. So war es keineswegs eine peinliche Panne, als am Tag nach den verheerenden Terroranschlägen vom 11. September 2001 der damalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani den Menschen nicht etwa dazu riet, innezuhalten und über das Leben nachzudenken, sondern einkaufen zu gehen.

Verbraucher wissen nicht, wie Bewertungen zustandekommen und wer sie wofür verwendet

Pam Dixon, die Geschäftsführerin der Daten- und Verbraucherschutzorganisation World Privacy Forum (WPF), lehnt die Verwendung von Kundenlebenszeit-, Verbraucherwichtigkeits- oder Verbraucherprofitabilitätswerten deshalb auch nicht grundsätzlich ab. Sie beklagt jedoch, dass die Bürger darüber im Dunkeln gelassen würden, welche Beurteilungen es gibt, wie sie zustandekommen und wer sie wofür verwendet. "Wir brauchen dringend Regeln: Es kann nicht sein, dass Menschen keine Chance haben herauszufinden, wie sie bewertet werden und warum jemand so oder so mit ihnen umspringt", sagt Dixon. Manche Konsumenten würden als "Kunden zweiter Klasse" behandelt - einige sogar, weil bei der Berechnung des CLV Fehler passiert sind oder weil, was in den USA immer wieder vorkommt, ihre Identität gestohlen und missbraucht wurde. Dixon verlangt deshalb, dass jeder Konsument seine Bewertungen einsehen, korrigieren und notfalls löschen lassen kann.

Manche Experten befürchten, dass Kunden womöglich schon deshalb mit einem niedrigeren Lebenszeitwert abgestempelt werden, weil sie die falsche Hautfarbe haben, in einem weniger guten Stadtteil leben, als arm oder zu alt gelten. Sogar Fader räumt ein, dass diese Gefahr besteht. Die CLV-Befürworter verweisen aber zugleich darauf, dass Vorurteile, Fehleinschätzungen und Diskriminierung keine Erfindungen des Internetzeitalters sind, sondern dass sie schon immer trauriger Bestandteil des Geschäftslebens waren.

Als vor etwa zwei Jahrzehnten das Zeitalter des Online-Shoppings begann, da konnte man für einen kurzen Moment auf den Gedanken kommen, dass in diesem vermeintlich anonymen Universum erstmals alle Konsumenten tatsächlich gleich sein würden. Keine Prognose der Welt hätte unzutreffender sein können.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2018
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