Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:Der Effekt von Hartz IV wird überschätzt

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Von Alexander Hagelüken, München

Wenig in Deutschland ist so umstritten wie Hartz IV. Die Reform verschlechtert das Leben Arbeitsloser, wettern die Kritiker und fordern die Abschaffung. Die Medizin ist bitter, aber nötig, sagen die Befürworter - und preisen die mit der Reform verbundenen stärkeren Anreize zum Arbeiten als zentralen Grund, warum es Deutschland heute wirtschaftlich wieder gut geht. Statt fünf Millionen Arbeitslose gibt es nur noch zweieinhalb. Doch nun sät ein Forscher Zweifel, dass dies wirklich Hartz IV zu verdanken ist. Das dürfte die aktuelle Debatte befeuern.

Mit Hartz IV habe "jeder, was er zum Leben braucht", behauptete Gesundheitsminister Jens Spahn kürzlich - und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Über das Los der sechs Millionen Hartzer wird jetzt wieder so heftig gestritten wie Mitte der Nullerjahre, als prominente SPDler mit der Linken aus Protest gegen die rot-grüne Agenda 2010 inklusive Hartz IV eine neue Partei formten. Berlins Bürgermeister Michael Müller zum Beispiel will Hartz IV durch staatlich organisierte Jobs zum Mindestlohn ersetzen.

Der Mannheimer Ökonom Tom Krebs versucht nun, die Grundlagen der Debatte zu klären. Es wird ja kaum bestritten, dass Hartz IV kurzfristig Arbeitslose nicht einschränkt, aber jene, die länger als ein Jahr ohne Stelle sind. Ein früherer Durchschnittsverdiener erhält seit der Reform nach Berechnungen der OECD nur 45 statt wie früher 57 Prozent seines einstigen Nettogehalts. Gleichzeitig ist nicht zu bestreiten, dass sich die Arbeitslosenrate seither mehr als halbiert hat: nach OECD-Rechnung seit 2005 von elf auf vier Prozent, den niedrigsten Stand seit fast 40 Jahren. Verantwortlich dafür ist zum einen die bessere Konjunktur: Deutschland erlebte seit der Finanzkrise einen Boom. Doch konjunkturelle Effekte erklären nur etwa die Hälfte des Rückgangs. War es also die bittere Medizin Hartz IV, die die Arbeitslosigkeit drastisch senkte?

Ja, stellten 2012 Michael Krause und Harald Uhlig von der Bundesbank fest: "Die Abschaffung des im Prinzip unbegrenzt gezahlten einkommensorientierten Arbeitslosengeldes reduziert die Arbeitslosenrate um fast drei Prozent." Eine gewaltige Wirkung. In einer noch unveröffentlichten Studie widerspricht dem nun der Mannheimer Ökonom Tom Krebs. Krause/Uhlig argumentierten, die durch Hartz IV verschlechterte Lage der Arbeitslosen mindere die Macht der Gewerkschaften, was die Löhne reduziere und so mehr neue Stellen schaffe. Doch die Gewerkschaften hielten sich nicht erst ab Mitte der Nullerjahre, sondern schon ab Ende der 90er-Jahre bei den Löhnen zurück. Deshalb, sagt Krebs, lässt sich der Jobboom nicht allein durch Hartz IV erklären. Krebs errechnet den Effekt von Hartz IV auf 0,5 Prozent weniger Arbeitslose. Das passt zu einer Studie von Klaus Wälde von der Uni Mainz - und ist sehr wenig.

"Gesamtwirtschaftlich hat Hartz IV mehr geschadet als genutzt"

Beide Studien haben gemeinsam, dass sie der Agenda 2010 insgesamt durchaus Positives zubilligen. Wälde und Andrey Launov stützen das auf die bessere Vermittlung von Arbeitslosen. Krebs betrachtet das ganze Hartz-Paket, zu dem bessere Qualifizierung oder die Erleichterung von Leih- und Zeitarbeit gehören, und beziffert den Effekt auf bis zu drei Prozent weniger Arbeitslose. Das ist viel. Dazu trage Hartz IV nur sehr wenig bei - schaffe aber gleichzeitig viele schlecht bezahlte Teilzeit- und Minijobs. "Fallende Stundenlöhne und gestiegene Unsicherheit verschlechtern die Lebensqualität breiter Bevölkerungsschichten", folgert Krebs. "Gesamtwirtschaftlich und gesellschaftspolitisch hat Hartz IV mehr geschadet als genutzt."

Krebs fordert, den umstrittensten Teil des Agenda-Pakets zu verändern. "Wer länger Beiträge eingezahlt hat, sollte erst später auf Hartz IV fallen", also länger das höhere Arbeitslosengeld beziehen. "Das würde die Akzeptanz in der Bevölkerung deutlich erhöhen", so Krebs. Außerdem brauche es "mehr Zuckerbrot statt Peitsche", etwa geringere Sozialabgaben, die Geringverdiener-Jobs attraktiver machen, und einen höheren Mindestlohn: "Auf 9,50 Euro kann man sicherlich gehen." Bisher sind es 8,84.

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SZ vom 18.06.2018
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