Süddeutsche Zeitung

Handel:So will Europa in den kommenden Jahren beim Handel mitmischen

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Mehr Autonomie, weniger Nachgiebigkeit: Das neue Strategiepapier der EU-Kommission zeigt eine selbstkritische, aber auch selbstbewusste Union.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Wenn die EU-Kommission in früheren Jahren eine neue handelspolitische Strategie vorstellte, dann nahm außer Experten davon oft kaum jemand Notiz. Diesmal jedoch, im Winter des Jahres 2021, könnte die Ausgangslage brisanter kaum sein. In vielen Ländern sind Nationalisten und Populisten am Ruder, die USA haben die halbe Welt mit Strafzöllen überzogen, China strebt mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln an die Spitze der Staatengemeinschaft, und die Corona-Pandemie hat selbst einem Exportweltmeister wie Deutschland vor Augen geführt, wohin Spezialisierung und Arbeitsteilung auch führen können: zum Mangel an den banalsten Dingen, an einfachen Stoffmasken etwa. In einer solchen Situation eine neue Handelsstrategie für die Zeit bis zum Jahr 2030 auszuarbeiten, gleicht einem Drahtseilakt.

Um die Balanceübung zu meistern, setzt die Kommission auf einen Mix aus Bewährtem und ganz neuen Tönen. Einerseits propagiert sie in ihrem Strategiepapier, das am Donnerstag vorgestellt wurde, in schon traditioneller Manier die Vorzüge offener Grenzen und eines freien Warenverkehrs. Diese seien für den wirtschaftlichen Wohlstand Europas weiter unabdingbar und müssten durch verlässliche internationale Regeln sowie durch mehr Kooperation, insbesondere mit der neuen US-Regierung, mit Afrika sowie den direkten EU-Nachbarn, gestärkt werden. Zweitens jedoch - und das ist in der Tonlage neu - will Brüssel die Bürger Europas besser vor aggressiven Handelspraktiken und "sonstigen feindlichen Akten" anderer Staaten schützen, notfalls im Alleingang. Und drittens schließlich strebt die Kommission in Kernbereichen wie der Gesundheitsversorgung mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sowie robustere Lieferketten an.

Ziel aller Maßnahmen sei eine Handelspolitik, "die offen, nachhaltig und selbstbewusst ist", sagte der Vizepräsident der Brüsseler Behörde, Valdis Dombrovskis, bei der Vorstellung des Strategiepapiers. Hielten sich Handelspartner nicht an die Regeln, werde Europa künftig "härter und bestimmter" auftreten. "Wir werden die uns zur Verfügung stehenden Instrumente schärfen, um für unsere Rechte und Werte einzustehen und uns gegen unfaire Handelspraktiken zu schützen", so Dombrovskis. Denkbar ist etwa, dass die EU Firmen eines Landes von öffentlichen Aufträgen ausschließt, wenn dieses Land seinerseits europäische Unternehmen benachteiligt. Ein erster Test könnte hier schon bald anstehen, denn der neue US-Präsident Joe Biden will Staatsaufträge im Rahmen seines "Buy American"-Konzepts weitgehend nur noch an heimische Anbieter vergeben.

Teil der neuen, einerseits selbstbewussteren, zugleich aber auch wertebezogenen EU-Strategie ist auch das Bekenntnis zu eigenen Versäumnissen. So gesteht die Kommission in dem Papier ein, dass Globalisierung, technischer Fortschritt und der Aufbau globaler Lieferketten zwar vielen Staaten und Menschen Wachstum und Wohlstand gebracht hätten, vielen anderen aber auch Enttäuschung, sinkende Löhne, wirtschaftlichen Abstieg und mehr Ungleichheit. In vielen Fällen hätten die Regierungen darauf zu spät und zu zaghaft reagiert. Dies habe zu einer Art "globalen Unsicherheit" sowie mehr Abschottung geführt und internationale Institutionen geschwächt.

Auch Europa selbst ist von diesen strukturellen Veränderungen betroffen. Das ist umso bedeutsamer, als sich zusätzlich das ökonomische Gewicht der EU in den nächsten Jahren weiter deutlich verringern wird. So war die Union 2019 mit Im- und Exporten im Gesamtwert von fast sechs Billionen Euro zwar immer noch der größte handelspolitische Akteur der Welt, ihr Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung sinkt jedoch beständig: von rund 23 Prozent im Jahr 2000 auf etwa 13 Prozent 2030.

Europa muss mit der aggressiven Außenwirtschaftspolitik Chinas erst einmal umgehen lernen

Grund ist vor allem der Aufstieg Chinas, eines staatskapitalistischen Landes, mit dessen aggressiver Außenwirtschaftspolitik Europa erst einmal umgehen lernen muss. Dombrovskis dämpfte denn auch Erwartungen, die EU könne schon bald Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag mit der Volksrepublik aufnehmen. Peking müsse erst einmal die Probleme angehen, die mit Stichworten wie Subventionen, Staatswirtschaft und Diebstahl geistigen Eigentums verbunden seien. Im nächsten Schritt seien dann Gespräche über ein Investitionsschutzabkommen denkbar.

Wichtigster Partner der EU bleiben aus Sicht Brüssels ohnehin die USA. Trotz aller "Irritationen", die man unter Präsident Donald Trump im bilateralen Verhältnis erlebt habe, gebe es weltweit keinen anderen Alliierten, mit dem man so viele Werte und Interessen teile, sagte Dombrovskis. Man habe der Regierung Biden bereits angeboten, alle unter Trump verhängten Strafzölle, etwa auf Stahl und Aluminium, wieder abzuschaffen und den Streit über Subventionen für die Flugzeugbauer Boeing und Airbus ein für alle Mal beizulegen.

Darüber hinaus will die EU die Welthandelsorganisation (WTO) grundlegend reformieren, die Digitalisierung ihrer Volkswirtschaften vorantreiben und den Kampf gegen den Klimawandel verstärken. So sollen neue Handelsabkommen nur noch mit solchen Ländern geschlossen werden, die sich schriftlich verpflichten, die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Auch sollen Europas Firmen sämtliche Lieferketten auf ihre ökologische und soziale Nachhaltigkeit hin überprüfen. Außerdem hat sich die Kommission die Ausrottung der Zwangsarbeit auf die Fahnen geschrieben - ein Signal nicht zuletzt an China, das in seinen Arbeitslagern politische Gegner und Minderheiten angeblich zur Produktion auch von Exportwaren zwingt. Denkbar ist, dass die EU solche Waren künftig spätestens bei den Zollkontrollen an ihren Außengrenzen abfängt.

Enttäuscht von dem Strategiepapier der Kommission dürften all jene Globalisierungskritiker sein, die Handelsabkommen generell als Kniefall vor den großen Konzernen der Welt betrachten und gehofft hatten, die EU werde sich von dem Instrument verabschieden. Das Gegenteil dürfte passieren: Handelsverträge, so das Credo der Kommission, schafften nicht nur die Basis für Bündnisse mit gleichgesinnten Partnern. Sie seien auch notwendig, um Europas Werte und Interessen international zur Geltung zu bringen und durchzusetzen. Allerdings sei es richtig, dass man mehr dafür tun müsse, um Handelspartner zur Einhaltung von Zusagen zu bewegen und den Menschen Europas die Vorzüge bestehender wie künftiger Abkommen für ihr Leben deutlich zu machen.

Immerhin, eine Zusage an die Kritiker gibt es: Nutznießer jeglichen Austauschs von Waren und Dienstleistungen, so die Kommission, müssten immer "die Bürger, die Arbeitnehmer und die Unternehmen" sein - in dieser Reihenfolge.

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