Süddeutsche Zeitung

Urteil zu EZB-Anleihekäufen:Schlechte Nachricht für Europa

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Das Karlsruher Urteil über die Anleihekäufe der EZB kommt einer Revolution gleich. Doch es schwächt die europäische Rechtsgemeinschaft.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Das Bundesverfassungsgericht hat an diesem Dienstag ein historisches Urteil gefällt, dessen ganze europäische Tragweite erst noch sichtbar werden wird. Erstmals in seiner Geschichte hat das höchste deutsche Gericht sich gegen den Europäischen Gerichtshof gestellt und erklärt, dass das von den europäischen Richtern für rechtens erachtete Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise gegen das deutsche Grundgesetz verstößt, die Bundesbank darf sich nur unter bestimmten Bedingungen weiter daran beteiligen. Ein solches Votum aus Karlsruhe war zwar für möglich gehalten - aber doch nicht erwartet worden.

Revolutionen passten nicht zu ehrwürdigen Richtern, hieß es noch am Montag. Nun haben die Richter in Karlsruhe das Gegenteil bewiesen. Ihr Urteil über das Anleihenkaufprogramm der EZB ist ein Aufstand, ein Votum gegen das "Weiter so" in der europäischen Krisenbewältigung.

Es war umsichtig, dass der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, gleich am Anfang versucht hat, dem Urteil seine Schärfe zu nehmen. Und klargestellt hat, dass die Entscheidungen in Karlsruhe nicht die aktuellen Aufkaufprogramme der EZB betreffen. Die EZB hat in der Corona-Pandemie ein 750 Milliarden Euro umfassendes Programm aufgelegt, mit dem sie Staatsanleihen aufkauft, um damit die Schuldenkosten der Eurostaaten zu begrenzen. Dieses Programm kann weiterlaufen. Voßkuhle hat mit dieser Anfangsbemerkung gezeigt, dass er sich durchaus bewusst ist, welche Tragweite das Urteil haben kann. Er hat damit einer Panik an den Finanzmärkten vorgebeugt.

Mittelfristig macht das Urteil die europäische Krisenpolitik deutlich komplizierter. Auch wenn es jetzt erstmal weitergeht mit den aktuellen Anleihekäufen, hat Voßkuhle mit seinem Urteil langfristig die Handlungsfähigkeit der EZB eingeschränkt. Das liegt weniger an den Auflagen, unter denen sich die Bundesbank weiter an den Aufkäufen beteiligen kann. Sondern an den grundsätzlichen Voraussetzungen, die die Richter ins Urteil geschrieben haben. Wie diese, dass maximal ein Drittel der gesamten bei der EZB gelagerten Anleihen von einem Staat stammen dürfen. Diese Auflage zu erfüllen dürfte schwerer werden, wenn eine Krise die andere jagt und immer dieselben Staaten finanzielle Hilfe benötigen.

Die Bundesbank hat jetzt drei Monate Zeit, zusammen mit der EZB überprüfen zu lassen, ob die Aufkäufe der Staatsanleihen verhältnismäßig sind. Aber was ist verhältnismäßig? Im Grunde genommen läuft es darauf hinaus, abzuwägen, ob die Aufkäufe der Anleihen mit dem Ziel, die italienischen Finanzierungskosten zu stützen, noch in einem guten Verhältnis stehen zum Anstieg der Immobilienpreise in Deutschland oder zum Verlust der Guthaben deutscher Sparer. Man mittelt Zinskosten hier mit Hauspreisen anderswo. Kann das politisch gut gehen? Steckt hier nicht ein ganz neues Potenzial für innereuropäische Verwerfungen?

Viel hängt nun davon ab, wie diese Abwägungen angegangen werden. Ja, man kann das auch positiv sehen und argumentieren, dass die Richter in Karlsruhe den Entscheidungen der EZB zu besserer Akzeptanz verhelfen, weil sich anhand eines solchen Berichtes leichter prüfen lässt, welche Auswirkungen die Aufkäufe haben. Andererseits ist es aber auch so, dass die EZB unabhängig ist - und damit auch keiner Kontrolle unterliegt, mal abgesehen von der des Europäischen Gerichtshofes. Würden die Richter in Luxemburg sich freilich die Auflagenpflicht aus Karlsruhe zu eigen machen, könnte das durchaus das Leben der Zentralbank vereinfachen.

Karlsruhe muss sich allerdings auch eine gewisse Ambivalenz vorwerfen lassen. Einerseits betont Voßkuhle, dass es nicht Aufgabe der EZB sei Wirtschaftspolitik zu betreiben. Andererseits erwähnt er selbst ausdrücklich die wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen der EZB-Politik für die deutschen Bürger, die mit null Zinsen leben müssen und steigenden Immobilienpreisen.

Besonders zu kritisieren ist allerdings, dass sich das Bundesverfassungsgericht offenbar nicht mehr seiner Vorbildrolle gegenüber den nationalen Gerichtsbarkeiten in Europa bewusst ist. Erstmals haben die Karlsruher Hüter des Grundgesetzes die Rechtsprechung aus Luxemburg angezweifelt. Das macht sie nun zu einem schlechten Vorbild für andere nationale Gerichte - nach dem Motto: Stellen sich die Deutschen gegen die Richter in Luxemburg, können wir das auch. Es sei hier nur an die Vorgänge in Polen und Ungarn hingewiesen, wo Rechtsprechungen aus Luxemburg schlicht ignoriert werden. Das Urteil aus Karlsruhe schwächt die europäische Rechtsgemeinschaft. Das mag den Richtern am Bundesverfassungsgericht gefallen, weil sie daraus eine größere eigene Bedeutung ablesen können. Für Europa aber ist das eine schlechte Nachricht.

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