Süddeutsche Zeitung

Brexit:Briten wetten wie verrückt auf Ausgang des Referendums

Lesezeit: 3 min

Von Björn Finke, London, London

Zumindest einer Branche in Großbritannien beschert das EU-Referendum glänzende Geschäfte: den Wettbüros. Matthew Shaddick, Manager beim börsennotierten Buchmacher-Konzern Ladbrokes, sagt, für Wetten zum Ausgang der Volksabstimmung seien insgesamt 100 Millionen Pfund bei seinem Unternehmen und den Konkurrenten gesetzt worden. Mehr als beim schottischen Unabhängigkeits-Referendum oder den Parlamentswahlen 2015. Es sei das "größte politische Wett-Ereignis aller Zeiten".

Das meiste Geld setzen Kunden auf einen Verbleib des Königreichs in der EU. Käme es so, wären viele Unternehmer und Manager in Großbritannien erleichtert. Denn die Mehrheit im Wirtschaftslager fürchtet einen Brexit, den Austritt aus der Union, die der größte Exportmarkt für britische Firmen ist. Volkswirte erwarten, dass ein Sieg des Brexit-Lagers die Konjunktur belasten würde, das britische Pfund würde sofort an Wert verlieren. Schatzkanzler George Osborne drohte bereits mit Steuererhöhungen, sollte solch ein Abschwung die Steuereinnahmen mindern.

Milliardär Dyson: EU wird "von Deutschland dominiert"

Wirtschaftsverbände und viele Unternehmer werben deshalb dafür, dass die Bürger für den Verbleib stimmen. Am Mittwoch veröffentlichte die Zeitung Times einen offenen Brief, in dem 1285 Manager großer und kleiner Firmen vor den Folgen eines Austritts warnen: mehr Unsicherheit, weniger Handel mit Europa, weniger Jobs. Zu den Unterzeichnern gehören neben den Chefs von Burberry, Vodafone, Shell und BP auch Richard Branson, Gründer des Virgin-Imperiums, Jürgen Maier, Statthalter von Siemens auf der Insel, oder BMW-Vorstand Ian Robertson.

In der gleichen Ausgabe der Zeitung ist allerdings auch ein Gastbeitrag von James Dyson zu lesen, Milliardär und Erfinder des beutellosen Staubsaugers. Dyson ist prominentester Vertreter der kleinen, aber lautstarken Minderheit im Unternehmerlager, die für den Brexit trommelt. Der Tüftler schreibt, er habe 25 Jahre lang Erfahrungen im Umgang mit EU-Gremien gesammelt und sei zu dem Schluss gekommen, dass Großbritannien "überhaupt keinen Einfluss" auf EU-Gesetze habe.

In einem Interview sagte Dyson einmal, er wolle raus aus der Union, weil die EU "von Deutschland dominiert" werde. Zu den Unterstützern eines Brexit gehören außerdem zahlreiche Manager von Hedge-Fonds, also von spekulativen Investmentfonds. Sie klagen über zu viel Regulierung aus Brüssel. Die große Mehrheit am Finanzplatz London unterstützt jedoch die Kampagne zum Verbleib in der EU. Viele Banken kümmern sich von der Themse aus um Kunden in ganz Europa. Das könnte nach einem Austritt schwieriger werden. US-Institute wie Goldman Sachs und JP Morgan kündigten an, nach einer Scheidung Tausende Jobs aus London in Euro-Staaten zu verlagern. Die Deutsche Bank richtete eine Arbeitsgruppe zu dem Thema ein.

Unmittelbar ändert sich im Fall eines Brexit für die Unternehmen: nichts

Gewinnt das Brexit-Lager das Referendum, bleibt Großbritannien zunächst in der EU. Die Regierung wird Gespräche mit Brüssel über die Trennung und die Beziehungen nach dem Austritt beginnen. Direkt ändert sich also nichts für die Unternehmen. Bis die Verhandlungen zwischen Brüssel und London abgeschlossen sind, wissen Manager aber nicht, welchen Bedingungen die Geschäfte über den Ärmelkanal in Zukunft unterliegen werden.

Der gemeinsame Binnenmarkt der EU ermöglicht es, Produkte in allen Mitgliedstaaten zu verkaufen, ohne sie extra in jedem Land zulassen zu müssen. Diesen Vorteil könnten britische Firmen verlieren. Und da Manager Ungewissheit hassen, würden sie Investitionen aufschieben, erwarten Ökonomen. Das bremst das Wachstum und kostet Jobs. Die Unsicherheit würde auch Anleger verschrecken, schätzen Analysten. Kurse britischer Aktien und die Notierung des Pfund würden fallen.

Zahlreiche Briten sorgen offenbar vor: Das Post Office - das ist so etwas wie die Postbank von Großbritannien - berichtet, Kunden fragten seit dem Wochenende ungewöhnlich stark Devisen nach. Die Summe sei um 74 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, heißt es. Die Interessenten wollen für ihre Pfund Euro und Dollar haben. Das sichert sie gegen einen Wertverlust des Pfund ab.

Britische Banken stockten ihre Bargeldbestände auf, um gewappnet zu sein, falls nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses Kunden ihre Konten leerräumen wollen. Die Bank of England, die Notenbank des Königreichs, hält die Geldinstitute dazu an, ähnlich wie vor dem Referendum über Schottlands Unabhängigkeit. Zentralbank-Chef Mark Carney warnt, ein Austritt stelle eines der größten Risiken für die Stabilität des britischen Finanzsystems dar; für diese Aussage wurde er von den Brexit-Befürwortern scharf kritisiert. Doch auch Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, und Janet Yellen von der US-Notenbank Fed bezeichnen einen Sieg des Austritts-Lagers als Risiko für die Wirtschaft. Beide versichern, vorbereitet zu sein. Das soll beruhigen.

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SZ vom 23.06.2016
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