Süddeutsche Zeitung

Zweitligist Darmstadt 98:Wo die Gescheiterten siegen

Lesezeit: 3 min

Kaum Geld, altes Stadion: Trotz widriger Bedingungen spielt Aufsteiger Darmstadt 98 auch in der zweiten Liga erfolgreich Fußball. Mit Spielern, die sonst keiner haben will.

Von Mathias von Lieben

Dirk Schuster reckt die Hände in die Luft, ballt seine Fäuste. Drei Punkte. Schon wieder. Diesmal 1:0 gegen RB Leipzig. Fünf-Millionen-Etat schlägt 35-Millionen-Etat, so könnte die Schlagzeile lauten. Es ist der sechste Sieg im 13. Spiel. Erst zweimal hat die Mannschaft von Trainer Schuster verloren. Langsam wird es unheimlich.

Der SV Darmstadt 98 liegt in der 2. Bundesliga mit 23 Punkten auf Platz drei - dem Relegationsplatz für die erste Liga. So gut starten nur wenige Aufsteiger in ihre Zweitligasaison. An diesem Freitagabend gegen Kaiserslautern kann sich das Team von Schuster in der Spitzengruppe etablieren. Doch der Trainer tut das, was schon viele Amtskollegen vor ihm taten: redet nur vom Klassenverbleib.

Tiefstapeln hat in Südhessen Konzept, es gehört zum Vereinsmodell. Bereits vergangene Saison in der dritten Liga predigte der Klub das Understatement. Am Ende stieg Darmstadt nach zwei verrückten Relegationsspielen gegen Arminia Bielefeld in die zweite Liga auf. Folgt eine Liga höher jetzt das gleiche Spiel?

Es hat lange gedauert, bis sich Darmstadt wieder einen Namen im Profifußball verschafft hat. Im Süden des Rhein-Main-Gebiets gab es lange Zeit weitaus attraktivere Vereine: Frankfurt, Mainz, Wiesbaden, Offenbach, nicht weit auch Kaiserslautern und Karlsruhe, noch zwei Traditionsvereine. Fußball in Darmstadt war trist. Vor zwei Jahren stieg der Klub nur deswegen nicht in die vierte Liga ab, weil Kickers Offenbach Lizenzprobleme hatte.

Die Gründe für den momentanen Erfolg: Bodenständigkeit, Disziplin und Akribie. Jeder Vereinsakteur scheint das verinnerlicht zu haben. "Wir wissen, wo wir herkommen", sagt Schuster: "Bei mir im Training zählen Ehrlichkeit, Leistung und Respekt." Der Coach hat seine beste Zeit als Profi beim Karlsruher SC erlebt. Wo Schuster hinkam, tat es häufig weh.

Schuster weiß, dass er aus Darmstadt kein Hochglanzprodukt zaubern kann. Lieber ein Team, das durch ehrliche Arbeit besticht. Dafür stellte er den Kader vor der Saison gemeinsam mit den zwei Vereinsscouts - sein Vater und der von Co-Trainer Sascha Franz - neu zusammen. Sie bastelten sich im Sommerschlussverkauf eine Mannschaft aus Arbeitern und gescheiterten Profis. "So geht es bei uns seit Jahren. Wir kaufen die Spieler, die kein anderer mehr haben will", sagt Schuster.

Stroh-Engel trifft fast ununterbrochen

Die Schnäppchenjagd hat sich gelohnt. Der Ex-Frankfurter Marcel Heller nutzt auf einmal seine technischen Fähigkeiten als offensiver Rechtsaußen, Hertha-Leihgabe Fabian Holland ist ein Stabilisator für die Defensive und im Mittelfeld ordnet Tobias Kempe das Spiel. Nur in einem von sieben Heimspielen haben die Darmstädter Gegentore kassiert. Vorne im Sturm trifft Dominik Stroh-Engel ununterbrochen - das Kopfballtor zum 1:0 gegen Leipzig war bereits sein achter Treffer in dieser Spielzeit.

Mit hoher Laufbereitschaft, taktischer Disziplin und Zweikampfhärte hat sich ein passender Stil für die robuste, zweite Liga ergeben. Unter Dirk Schuster schöpfen viele Spieler ihr Potenzial aus. "Es war die richtige Entscheidung, einen Schritt zurückzugehen", sagte etwa Marcel Heller vergangene Woche im Kicker. Neu anfangen, das wollen in Darmstadt viele.

Dabei stand vor der Saison nicht einmal fest, ob das heimische Stadion am Böllenfalltor überhaupt als Austragungsort für Zweitligafußball taugt. Mit einem Wellblechdach und hölzernen Sitzschüsseln ist das Stadion eher ein Relikt aus einer Zeit, in der Darmstadt 98 schon einmal in der Bundesliga spielte. 1978 war das, 1981 ein weiteres Mal - die erfolgreichste, aber auch kostspieligste Zeit. Es folgten mehrere Abstiege, die Verantwortlichen verkalkulierten sich mit Ablösesummen und Gehältern.

Der Verein modernisierte das Stadion, der Charme des Unfertigen ist geblieben. Die DFL lenkte ein und erteilte den Darmstädtern eine Sondergenehmigung. Bis Sommer 2016 wird mit Unterstützung der Stadt für 27 Millionen Euro renoviert. "Dann können wir hier langfristig von Profifußball und auch vielleicht mal wieder von der ersten Bundesliga sprechen", sagt Schuster.

Die Fans würden es am liebsten jetzt schon tun. Zum Auswärtsspiel nach Kaiserslautern reisen 4500 Anhänger, sämtliche 2000 Tickets für das Spiel am 17. Spieltag beim FC St. Pauli waren unter der Woche innerhalb von eineinhalb Stunden vergriffen. Nach dem Sieg gegen Leipzig hat der Verein nochmals 200 Dauerkarten abgesetzt, insgesamt haben 5000 Anhänger ein Saisonticket - Vereinsrekord.

"An 50 Prozent der Autos sieht man wieder Lilien-Aufkleber, in der Stadt hängen überall Fahnen aus den Fenstern. Wir wollen das am Leben halten", sagt Schuster. Wenn er über die Euphorie spricht, die er und seine Mannschaft in der Stadt ausgelöst haben, schlüpft er kurz aus seiner Rolle als strenger Arbeiter und Mahner heraus. "Wir haben den Menschen etwas zurückgegeben, was einmal zu ihrem Leben gehörte. Man ist wieder stolz auf den Darmstädter Fußball!"

Dirk Schuster und sein Co-Trainer Sascha Franz sind auch ein bisschen stolz. Die zwei haben ein nettes Ritual etabliert: Am Morgen des Spieltags joggen sie immer gemeinsam, das bringt Glück. Das Ziel: der nächstgelegene Flughafen. "Wir werden auch in Kaiserslautern wieder zwölf bis 15 Kilometer laufen. Ob wir da aber einen Flugplatz finden, weiß ich noch nicht."

Wenn die Darmstädter so weiterspielen wie bisher, werden die beiden vielleicht schon bald keine Probleme mehr damit haben, einen Flughafen zu finden. München, Hamburg, Frankfurt und Köln haben nämlich sehr große.

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