Süddeutsche Zeitung

Alexander Zverev:In einer Galerie mit Becker und Stich

Lesezeit: 3 min

Von Gerald Kleffmann, London/München

Um 19.35 Uhr Ortszeit in London machte sich Alexander Zverev flach. Er warf sich auf den Bauch, der Länge nach. Und weil er 1,98 Meter groß ist, wirkte er sehr lang, wie er so da lag. Dann drehte er sich auf den Rücken, als sei er Kafkas Käfer, der mit sich ringe und gerade eine Verwandlung durchlebe. Er schlug die Hände aufs Gesicht. In der Zwischenzeit, natürlich konnte das Zverev jetzt nicht sehen, schritt sein Gegner zu ihm herüber. Als Zverev die Augen öffnete, stand Novak Djokovic vor ihm - und gratulierte dem Sieger der ATP Finals.

Der 21-Jährige aus Hamburg, der seit Jahren nur eine Entwicklung kennt, nach oben, hat am Sonntagabend tatsächlich den symbolträchtigen Saisonabschluss der Profitour gewonnen, an dem nur die besten acht Spieler teilnehmen dürfen, die inoffizielle Tennis-WM. Er war kein Käfer. Er war nun ein Champion.

Mit 6:4, 6:3 hatte sich Zverev überraschend klar gegen den Serben durchgesetzt. Überraschend deshalb, weil noch in der Gruppenphase Djokovic klar mit 6:4, 6:1 gesiegt hatte. Und auch bis zum Finale wie eine Planierraupe Tennis zelebriert hatte. Kein Aufschlagspiel hatte der 31-Jährige aus Belgrad abgegeben. Zverev glückten vier Breaks. "Du hast wirklich viel besser als in der Gruppenphase gespielt", zollte Djokovic Respekt.

Zverev schrieb mit dem größten Titel seiner Karriere auch deutsche Tennis-Geschichte. Er ist nun direkt in einer Ahnengalerie mit Michael Stich und Boris Becker, was dieses Turnier betrifft. Stich hatte 1993 triumphiert, Becker 1988, 1992 und 1995. Als letzter Deutscher hatte Becker 1996 im Finale gestanden (und gegen Pete Sampras aus den USA verloren). Zverevs Sieg veredelt überdies dieses für Tennis-Deutschland spezielle Jahr. Im Juli hatte Angelique Kerber, 30, als erste Deutsche seit 22 Jahren, als Erste seit Steffi Graf, in Wimbledon den Pokal in die Höhe gestemmt.

Die Woche von London war eine, in der Zverev viele Emotionen zu verarbeiten hatte. Zum zweiten Mal hatte er sich für dieses elitär besetzte Finalturnier qualifiziert. Im ersten Match lag er früh gegen den Kroaten Marin Cilic 2:5 zurück, er drehte die Partie. Dann kassierte er eine kleine Abreibung von Djokovic. Den aufschlagstarken John Isner aus den USA wiederum hielt er im Zaum. Und dann folgten zwei Spiele, deren Gefühlswelten sich am besten mit den Interviews auf dem Platz danach wiedergeben lassen.

Am Samstag hatte Zverev ja den großen Roger Federer mit 7:5, 7:6 (5) bezwungen. Dabei war es im Tie-Break zu einer kuriosen Szene gekommen, durch die Zverev unschuldig zum Buhmann vieler Federer- Ultras in der Halle wurde. Der Schweizer führte 4:3 - als ein Balljunge patzte und einen Ball fallen ließ, was Federer nicht sah. Zverev sah es aber und unterbrach den Ballwechsel, in dem Federer im Vorteil gewesen war. Federer fragte irritiert beim Schiedsrichter nach, Pfiffe ertönten, der Punkt wurde wiederholt - Zverev knallte ein Ass ins Feld. Kurz darauf hatte er gewonnen, doch als ihn Annabel Croft, eine Fernsehexpertin, interviewte, kassierte er wieder Pfiffe und sogar Buhrufe. Weil er sich im Grunde erdreistet hatte, den Liebling Federer in die Schranken zu weisen. "Ich wollte nicht, dass es so endet", sagte Zverev verzweifelt, "ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin gerade etwas verloren." Dabei hatte er sich regelgerecht verhalten.

Eine Nacht später bekam er wieder das Mikrofon von Croft in die Hand gedrückt. Doch diesmal war die Stimmung eine andere. Tausende Papierschnipsel flogen um ihn herum, sie waren mit einer Kanone in die Luft geschossen worden. Zverev übermittelte seine Freude, er hielt eine ausgesprochen witzige Rede - und bedankte sich bei Djokovic, dass er nun ja einer der wenigen sei, der den 14-maligen Grand-Slam-Champion in dessen fast perfektem zweiten Halbjahr 2018 besiegen durfte. Zverev lobte schließlich der Reihe nach sein Team, das weitgehend in gleicher Besetzung seit Jahren um die Welt reist. Seit August aber zählt auch Ivan Lendl zum Trainerstab, neben Vater Alexander, und für den achtmaligen früheren Grand-Slam-Sieger hatte Zverev diese süffisante Bemerkung übrig: "Ich denke, es läuft ganz okay bis jetzt", sagte er. Lendl lächelte geheimnisvoll.

Zverevs Volley ist besser geworden

Der 58-Jährige, der schon den Schotten Andy Murray zu drei Majorsiegen geführt hatte, ist der Hauptgrund, warum sich Zverev abermals verbessert hat und das Jahr als Nummer vier der Weltrangliste abschließen wird. Zverev schlägt noch effizienter auf, weil härter und platzierter. Er sucht nicht sofort von der Grundlinie aus den Punktgewinn. Wenn sich aber eine Lücke auftut, schlägt er zu. Und er geht öfter ans Netz, sein Volley ist besser geworden. Unberechenbarkeit strahlt er aus, Zähigkeit.

Am Ende war es Djokovic, der zermürbt nicht mehr zulegen konnte und auch leer und ideenlos wirkte. Sonst ergeht es seinen Gegnern meist so. Zverev war der bessere Djokovic diesmal. "Ein neuer Star ist geboren", sagte Becker als Experte im englischen Fernsehsender BBC. Und auch Djokovic dürfte ahnen, dass dieser deutsche Hüne 2019 bei vielen wichtigen Titeln mitspielen wird. "Du bist zwar noch jung", sagte er bei der Siegerehrung, "aber du hast eine große Karriere vor dir."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4216234
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.11.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.