Süddeutsche Zeitung

Marokko bei der WM:Dribblings für eine halbe Milliarde Menschen

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Rückkehrer Hakim Ziyech spielt eine Schlüsselrolle im Nationalteam Marokkos - hinter dem sich inzwischen Fans aus dem ganzen arabischen Raum versammelt haben. Im Achtelfinale muss er heute gegen die Spanier anrennen.

Von Sven Haist, Doha

Fast hätte Hakim Ziyech bei dieser Fußball-WM gar nicht mitgespielt. Der Marokkaner trat im Februar dieses Jahres aus der Nationalmannschaft zurück - mit 28 Jahren! Die Entscheidung war keine Überraschung, Trainer Vahid Halilhodzic hatte ihn sechs Wochen zuvor nicht für den Afrika-Cup nominiert. Schon im Sommer 2021 war es zum offenen Zerwürfnis zwischen Ziyech und Halilhodzic gekommen.

Der im heutigen Bosnien geborene Halilhodzic, dessen bisweilen kompromissloser Führungsstil ähnlich viele Erfolge wie Streitereien hervorbrachte, hatte den Flügelspezialisten des FC Chelsea vehement für dessen Einstellung kritisiert. Ziyechs Verhalten sei dem eines Nationalspielers nicht würdig, schimpfte er. Ziyech, der eigentlich als Profi mit hoher Arbeitsmoral gilt, wies die Vorwürfe umgehend zurück und bezichtigte seinen Trainer der Lüge. Auch mit Außenverteidiger Noussair Mazraoui vom FC Bayern verkrachte sich der 70-jährige Halilhodzic.

Den Entschluss, seinem Land nicht mehr zur Verfügung zu stehen, traf Ziyech nach reiflicher Überlegung. Er sah keine Basis mehr für eine vernünftige Zusammenarbeit. Trotzdem spielte er insgeheim mit dem Gedanken, dass eventuell in Zukunft doch noch eine Tür für ein Comeback aufgehen könnte. Sie öffnete sich dann tatsächlich ein paar Monate später - weil vor allem Fans und Medien in Marokko eine Rückkehr ihres Schlüsselspielers herbeisehnten. Ziyech gehört neben dem Alt-Internationalen Aziz Bouderbala zu den größten Fußballidolen in seiner Heimat. Und klar: Mit seinem Mitwirken würde auch die Wahrscheinlichkeit auf ein gutes Abschneiden des Nationalteams steigen.

Erstmals werden alle fünf afrikanischen WM-Teilnehmer von Trainern aus dem jeweiligen Land betreut

Aus diesen Gründen kündigte der Verband den Vertrag mit Halilhodzic - drei Monate vor WM-Start. Für den Trainer bedeutete die Entlassung ein schmerzhaftes Déjà-vu, sie riss alte Wunden auf: Drei der vier Nationen (Elfenbeinküste, Japan, Marokko), mit denen er sich für ein Weltturnier qualifiziert hatte, stellten ihn kurz davor frei. Nur mit Algerien schaffte er es tatsächlich zur WM 2014, wo seine Mannschaft unglücklich im Achtelfinale an Deutschland scheiterte.

An seine Stelle trat Walid Regragui, ein ehemaliger Nationalspieler Marokkos, der soeben den Verein Wydad Casablanca in seiner ersten Saison zum Sieg im wichtigsten afrikanischen Klubfußballwettbewerb geführt hatte. Mit dieser Personalie passte sich Marokko dem Trend in Afrika an, vermehrt auf heimische Coaches zu setzen, statt wie früher vornehmlich Führungskräfte aus Europa und Südamerika anzuheuern. Erstmals werden alle fünf afrikanischen WM-Teilnehmer von Trainern aus dem jeweiligen Land betreut.

Quasi mit seiner ersten Amtshandlung holte Regragui Ziyech und Mazraoui in den Kader zurück. Durch deren Wiedereingliederung hatten die arabisch sprechenden Nordafrikaner plötzlich eine aussichtsreiche Mannschaft beisammen, die sich nun sogar aufmacht, Geschichte zu schreiben. Ausgerechnet, und hier ist das Wort angemessen, bei einer erstmals auf arabischem Boden ausgetragenen WM. Noch nie gelang es Arabern bis hierhin, das Viertelfinale einer WM zu erreichen. Auf den Atlaslöwen ruhen daher am Dienstag im nicht nur sportlich brisanten Duell mit Spanien, einer früheren Kolonialmacht in Marokko, alle Hoffnungen dieser Bevölkerungsgruppe - zu der knapp eine halbe Milliarde Menschen zählt.

In den vergangenen Tagen haben sich nahezu alle arabischen Fußballfans, egal aus welchem Land sie zum Turnier angereist sind, mit den Marokkanern in den Straßen Dohas verbündet. Die stimmgewaltige Kulisse beflügelte das Team schon beim Überraschungserfolg über Belgien, der sich als wesentlich für das Weiterkommen erwies. Und vor allem ein Spieler drehte da so richtig auf: Hakim Ziyech.

Mit seinen Einzelaktionen kann er ein Spiel entscheiden - oder dem Gegner gefährliche Konter ermöglichen

Mit seinen Dribblings war der Rechtsaußen für seine Gegenspieler kaum zu bändigen. Zusammen mit dem bei Paris Saint-Germain angestellten Außenverteidiger Achraf Hakimi bildet Ziyech auf Marokkos rechter Seite eines der offensivstärksten Duos bei diesem Turnier. Dabei hilft ihm sowohl das bedingungslose Vertrauen seines Trainers Regragui als auch seine Spielposition in der Nationalelf. Ihm liegt es wie jetzt am meisten, wenn er im Stile des Weltklassedribblers Arjen Robben von ganz rechts in die Mitte ziehen kann, um mit seinem formidablen linken Fuß entweder präzise zu flanken oder selbst zum Abschluss zu kommen. Geprägt durch die niederländische Fußballanschauung, die er bei seinem Jugendverein SC Heerenveen und später bei Ajax Amsterdam eingeflößt bekam, besitzt Ziyech einen besonderen Drang zum Tor - was Chance und Risiko zugleich darstellt.

Er kann jederzeit ein Spiel mit einer genialen Einzelaktion entscheiden, darauf spekulieren die Marokkaner auch gegen Spanien. Allerdings resultieren aus diesen Situationen manchmal auch Ballverluste, die gefährliche Konter einleiten können. Damit haben so einige, vor allem defensiv ausgerichtete Trainer wie Halilhodzic ihre Schwierigkeiten.

Auch Chelseas Trainer Graham Potter, der zu Saisonbeginn auf Thomas Tuchel folgte, kann mit Ziyech bisher offenbar wenig anfangen. Obwohl Potter in seiner Anfangsphase viel experimentierte und einen auf Ballbesitz ausgerichteten Fußball präferiert, kam Ziyech in der Hinrunde nur auf sporadische Einsätze. Schon unter Tuchel tat er sich nicht immer leicht, weil ihm die damalige Erfolgsformation des Deutschen mit nur einem echten Außenbahnspieler nicht entgegenkam. Auf dieser Position bevorzugte das Trainerteam eher körperbetontere Spieler als den schmächtigen Ziyech. Anders als seine Konkurrenten im Angriff, wie DFB-Nationalspieler Kai Havertz, Christian Pulisic und Raheem Sterling, verfügt Ziyech nämlich nicht über deren Flexibilität, auf eine andere Position ähnlich gut ausweichen zu können.

Aufgrund der geringen Einsatzzeiten wird in England bereits über einen Wintertransfer geraunt. Die spanische Liga mit ihrem Fokus auf Spielkultur könnte Ziyech mehr liegen als das oft körperbetonte Verteidigen auf der Insel. Und er kann auf sich aufmerksam machen bei dieser WM. Vor allem aber kann er mit seinen Auftritten Marokkos Nationalteam helfen. Sie bieten ihm und seinen Landsleuten eine Chance, von der beide Seiten dachten, dass es sie gar nicht mehr geben würde.

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