Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Deutschland - England:In der Höhle der drei Löwen

Lesezeit: 4 min

Ein England-Besuch mit Folgen: Wie ein furchtloser sueddeutsche.de-Leser das Spiel Deutschland gegen England in einem Londoner Pub erlebte - und seine Herkunft nicht lange verbergen konnte.

Jonas Beckenkamp

Damit war nun wirklich nicht zu rechnen. Einige Monate vor der WM stolperte ich über das Angebot einer Billig-Airline für einen Flug nach London und buchte mir ein Ticket. Es war das Wochenende 26./27. Juni 2010. Dass es an jenem Sonntag zum Achtelfinale Deutschland gegen England kommen sollte, konnte ich vorher nicht wissen - während meine Freunde und 25 Millionen andere Deutsche das Spiel zu Hause vor dem Fernseher verfolgten, ging ich also spontan in ein Pub im Londoner East End. Ein Erlebnisbericht aus der Höhle der "Three Lions".

"Sieh zu, dass du lebendig wiederkommst!", "Provoziere sie nicht, das sind Engländer!", "Ach, bleib doch lieber hier!" - keine Ahnung, wie oft ich mir am Tag vor meiner Abreise derartige Empfehlungen anhören musste. Doch mein Entschluss stand fest, schließlich hatte ich diese Reise schon gebucht. Was als gemütlicher Trip ins Land der Teetrinker geplant war, endet mit dem WM-Achtelfinale Deutschland gegen England an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Osten der königlichen Hauptstadt. Ein Mann, ein Pub, denke ich mir - wo sollte ich auch sonst hingehen, um mir diesen Klassiker anzusehen. Etwa in die Elektronikabteilung von Harrod's? Auch armselig.

In einem Hinterhof der Brick Lane, einer berühmten kleinen Straße mit desolatem Charme, in der es nach Curry duftet, finde ich ein Pub, an dessen Eingang ein Schild hängt: "World Cup live: England - Germany, Kick Off 3 PM". "Das ist mein Laden", denke ich und schäme mich ob dieses Mario-Barth-Blödsinns in meinem Unterbewusstsein. Der Laden ist gut gefüllt, die "football lads" haben blendende Laune, was durch reges Ordern zapffrischer Pints und gelegentliche "Comeooonenglaaaaand"-Krakeeler zum Ausdruck kommt. Mit dem Bierbestellen beginnen meine Probleme. Hatte ich im Vorfeld noch den gewieften Plan, mich einfach still zu verhalten und nicht zu jubeln, falls die Deutschen ein Tor schießen würden, um nicht als "German" in Erscheinung zu treten, droht nun meine Tarnung bei der Getränkeorder aufzufliegen. "A Pint of Stella, please," oxfordere ich angestrengt - es reicht nicht. "Now, look at you, mate, you're not actually German, are ya?" cockneyed mich der glatzköpfige Barmann an.

Are you German?

Nein, Österreicher - das war meine zurechtgelegte Antwort für den Fall der Fälle, doch ich verpasse den Moment für diese Notlüge und fliege auf. "Weeelll..." - "Oi lads, there's a fookin' German here with us today!", brüllt der entzückte Vorzeigebrite hinter dem Tresen so laut, als läute er jetzt schon die letzte Runde vor der "closing hour" ein. "Oh fook off!", schallt es unisono aus der Menge, aus der zuvor nur friedlich gemurmelte Audrücke wie "Cheers" und "Sorry mate" kamen. Von diesem Moment an vernehme ich die Wörter "fookin'" und "German" als eine Art konstantes Nebengeräusch zum dröhnenden Vuvuzela-Getröte aus dem Fernseher. Das Spiel beginnt und meine Gelassenheit endet, schnell spüle ich ein weiteres Pint hinterher, um mir Mut anzutrinken gegen die bösen Blicke und Schmährufe in meine Richtung.

Es kommt noch schlimmer: Als Klose das 1:0 erzielt, jaule ich kurz auf und mache vorsichtshalber einen Satz zurück, aus Angst vor dem Exodus des Mob. "It's in, it's one nill for Germany", höre ich den BBC-Kommentator noch rufen, dann geht er im Lärm des Pubs unter. Ich überlege zu gehen, denn es könnte ungemütlich werden hier - zumal sich mir eine Gruppe Working-Class-Haudegen nähert, deren Beschimpfungen sich nicht mehr wie normales Englisch anhören, sondern eher wie ein Bellen gespickt mit vielen "bloodies" und "bastards". Podolskis 2:0 macht die Sache nicht besser - im Gegenteil: Die Stimmung wird kurzzeitig bedenklich aggressiv und der Alkoholpegel tut mittlerweile sein Übriges zur Erhitzung der Gemüter.

Als ich erneut Bier bestellen gehe, merke ich, dass auch englisches Lager seine Wirkung nicht verfehlt - zumindest beim Trinken steht es zwischen den Pint-Aficionados im Pub und mir unentschieden. Dann trifft Upson zum 1:2 und ich erlebe einen Urknall an Jubel, der den Laden fast zum Zerbersten bringt. Dicke Männer ziehen ihre T-Shirts aus, Bier spritzt durch die Luft, Lieder werden angestimmt - und einer brüllt: "Take this, bloody Fritzes!" bis ihm sein Kumpel ein frisches Pint an den verschwitzen Mund hält.

Hüllen und Hemmungen fallen, das englische Understatement ist einer Euphorie aus Fußballekstase und Alkohol gewichen, doch hätte ich geahnt, was jetzt passiert, wäre ich wohl wirklich abgehauen: Lampards Schuss landet so klar hinter der Linie, dass ich mich fast schäme, als das Tor nicht gegeben wird. Das ganze Pub ist außer sich. In den Gesichtern steht eine Art der Verzweiflung, wie ich sie noch nie gesehen habe. Alles schäumt, nicht nur die Zapfanlage. "It was in, you stupid idiot!", japst einer, "You shithead!" schallt es aus der Ecke - und ich hoffe, es ist der Schiedsrichter gemeint und nicht ich.

Großes Drama, große Engländer

Der Mann vor mir bekommt Krampfadern an der Stirn, die so hochrot anläuft, dass ich befürchte, er könnte sogleich vor Ärger das Zeitliche segnen. "You see that, mate? It should've been a goal! Oh what a bloody disgrace!" ist noch das Höflichste, was ich höre. Warum bin ich nicht einfach an den Tegernsee oder nach Irland gefahren, denke ich. Aber ich muss das Spiel ja irgendwo anschauen, also beschließe ich, noch eins zu trinken und das hier durchzustehen. Spaß macht mir bisher nur das Spiel der deutschen Mannschaft und anders als anzunehmen war, erheitert es mich nicht, die Engländer so zu sehen. Ich habe Mitleid, was ich gerne jemandem mitteilen würde, doch ich ziehe es vor, mich hier nicht um Kopf und Kragen zu reden.

Müllers Doppelschlag zum 3:1 und 4:1 besiegelt den Katastrophentag der Engländer. Ich staune über die Leidensfähigkeit und den Humor der Briten, denn nicht Lampards "Wembley-Tor" ist das große Thema, sondern die Unfähigkeit der englischen Spieler. Die Attribute, mit denen die Leistung ihres Kapitäns Steven Gerrard kommentiert wird oder der Auftritt des Verteidigers John Terry zeugen zwar nicht von guter Kinderstube, doch sie demonstrieren: Die Schuld für die Niederlage suchen die Fans nicht beim Schiedsrichter, sondern bei ihren Spielern. Je größer das Drama, desto größer die Engländer, fällt mir auf. Sie hadern, sie spotten, sie leiden, sie zetern - doch sie bewahren Haltung. Ich bin beeindruckt.

Je näher der Schlusspfiff rückt, desto entspannter geben sich meine Nebenleute mir gegenüber. Einer sagt: "Losing against the Germans is the worst and the best thing that ever happens to us - it breaks our hearts, but at the same time it shows us what we really are: We're losers and we're proud of it." Er klopft mir auf die Schulter, grinst mich an und sagt: "Now you little German, go buy me a drink, for fooks sake, that's the least you can do." Ich hole uns zwei Pints und sage zu ihm: "At least we didn't beat you on penalties!" - "Oh fuck off!", antwortet er und mir fällt zum ersten Mal auf, dass das durchaus auch nett gemeint sein kann.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.967138
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/bgr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.