Süddeutsche Zeitung

Vor dem Pechstein-Prozess:Vorstoß in letzter Minute

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Einen Tag vor dem Prozess zaubert Claudia Pechstein sechs neue Gutachten hervor. Das ist vor allem medienwirksam. Ein Freispruch lässt sich daraus nicht ableiten.

Thomas Kistner

Und noch ein Paukenschlag, am Tag vor dem Prozess zur Causa Claudia Pechstein gegen den Eislaufweltverband ISU am Sportgerichtshof Cas in Lausanne: Der Stein der Weisen soll in letzter Minute gefunden sein. Insgesamt sechs Gutachten, sagte Pechsteins Anwalt Simon Bergmann am Mittwoch laut dpa, habe man dem Cas vorgelegt, zwei davon "enthalten Befunde, die deutliche Hinweise auf eine natürliche Ursache der schwankenden Retikulozyten liefern." Warum man so spät damit kommt? "Wir haben diese medizinisch sehr komplexen Ergebnisse nicht vorzeitig der Öffentlichkeit vorgestellt, damit der Cas unvoreingenommen und auf sachlicher Basis entscheiden kann", wird Bergmann weiter zitiert. Diese Rücksichtnahme hat ja auch die ISU gepflegt, allerdings über die gesamte Zeit. Insofern bleibt offen, welche Rolle die Sorge um die Unvoreingenommenheit der Cas-Richter in den vergangenen Monaten spielte, als Pechsteins Partei wiederholt mit großem Tamtam die Öffentlichkeit suchte. Einmal sogar per Fernseh-Selbstpräsentation.

Verrückte Geräte

Vor diesem dramaturgischen Hintergrund verwundert der Last-Minute-Vorstoß nicht unbedingt. Andererseits bietet er zu wenig Konkretes, als dass sich die unabhängige Fachwelt gleich wieder darauf stürzen und ihn zerpflücken könnte. Aus Kreisen der ISU, der die neuen Papiere ja vorliegen, hieß es am Mittwoch nur, man sei gut vorbereitet und bester Dinge.

Was wurde in dem Fall nicht alles diskutiert, bis hin zu der Frage, was ein Freispruch erster oder zweiter Klasse wäre. Grundsätzlich vielleicht eine Frage der Einschätzung, aus Sicht eines Publikums jedoch, das weniger an sportjuristischer Fingerhakelei als an medizinischen Fakten interessiert ist, lässt sie sich so beantworten: Ein Freispruch erster Klasse wäre, wenn das Gericht meint, es habe kein Doping stattgefunden. Dass also beispielsweise mit hoher Wahrscheinlichkeit eine körperliche Ursache vorliege.

Davon war nach bisher bekannter medizinischer Aktenlage eher nicht auszugehen. Chancen auf einen Freispruch für die von der ISU wegen überhöhter Retikulozyten-Werte gesperrte Athletin wurden von unabhängigen Beobachtern eher im weiten Feld möglicher Verfahrensfehler lokalisiert. Die Wege von Dopingproben sind generell tückisch und voll anfechtbarer Details, deshalb hat sich die ISU mit einer Blutwerte-Tabelle zu Pechstein über einen längeren Zeitraum gewappnet. Zugleich zeigte die bisherige, gern aggressiv via Medien vorgetragene Verteidigungsstrategie der Athletin, dass man am Cas wohl eher den von der ISU hämatologisch und statistisch gut abgesicherten Verdacht erschüttern wolle. Dass der Verdacht gut abgesichert erscheint, durfte der Laie den Einschätzungen des nicht in den Fall verwickelten Teils der Fachwelt entnehmen. Unabhängige Hämatologen, Laborexperten, Dopingfahnder boten naturgemäß gute Orientierungshilfe. Sie alle werden staunen, falls am Ende vorliegen sollte, was die Athletin am meisten zur medizinischen Klärung brauchte: Eine Blutkrankheit oder Anomalie, die man noch nicht kannte. Der Morbus Pechstein, wie es der Pharmakologe Fritz Sörgel umschreibt.

Zu vernehmlichen Klarstellungen fand die Expertenwelt bisher zusammen, wenn Pechsteins Seite eine ihrer Attacken auf eine angeblich schludrige Laborwelt ritt. Mal seien Proben vertauscht worden, nun soll der Gerätetyp, den die ISU seit Jahren (wie viele hämatologische Fachlabore) für ihre Messung nutzt, fehlerhafte Daten liefern. Fachleute konterten die Vorwürfe, zumindest generell, stets einleuchtend. Und sie stellten selbst Kernfragen in den Raum, die auch für Laien leicht nachvollziehbar sind. Unterstellt, die bei Pechstein von der ISU seit Jahren angewandte Messtechnik wäre fehlerhaft: "Warum spielten die Geräte dann nur bei ihr verrückt?", fragt Sörgel.

Stille Verschwörung?

Eine - zugegeben, abenteuerliche - Erklärung wäre, dass die ISU auch so auffällige Werte von anderen Athleten in ihrer Datenbank verwahrte, aber allein die der fünfmaligen Olympiasiegerin herausgezogen hat: Eine sportpolitische Verschwörung gegen das Aushängeschild des eigenen Sports? Zumindest müsste dies leicht zu beweisen sein - indem die ISU den Sportrichtern ihre computergesicherte Datenbank öffnet. Dass sie dies tun würde, hat sie längst signalisiert.

Aber allein die drei stark erhöhten Retikulozyten-Werte Pechsteins bei der WM in Hamar im Februar, über mehrere Tage eingebettet in zig verschlüsselte, computererfasste Proben der übrigen Teilnehmer, müssten doch Aufklärung bringen. Kamen die Blutmessgeräte der ISU auch bei anderen ins Schleudern?

Eine von ihr selbst in Auftrag gegebene Studie brachte Pechstein in letzter Stunde auf den Weg zum Cas; fraglich erscheint, ob das späte Konvolut komplett Eingang in den Prozess findet. Der Cas hält sich hier auf Anfrage bedeckt. Und welches Gewicht messen die drei Richter Massimo Cocchia (Italien), Stephan Netzle, Michele Bernasconi (beide Schweiz) einem Eigengutachten bei, das ja wohl kaum unter echten Quarantäne-Bedingungen erstellt worden sein dürfte? So einen Kraftakt hatte sich die Nationale Anti-Doping-Agentur gar nicht zugetraut.

Aber: Nichts ist gewiss. Am wenigsten im Sportrecht, das in Dopingfragen gern überraschende Wege geht. Ob aber Verurteilung oder Freispruch: Bedeutend für den Sport, der in vielen Sparten einen Systemzwang Doping beklagt, wäre ein Urteil, das auch versucht, größtmögliche Klarheit in der Kernfrage zu schaffen: Doping oder nicht?

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SZ vom 22.10.2009
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