Süddeutsche Zeitung

US Open:Tüftler unter sich

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Nuancen und Zentimeter: Im Halbfinale treffen mit Daniil Medwedew und Dominic Thiem zwei Meister der kleinen Details aufeinander.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Es sei aus gegebenem Anlass noch einmal an Andre Agassi erinnert und dessen Geschichte, wie er anhand der Zungenstellung von Boris Becker erkannte, wohin der aufschlägt. Zunge in der Mitte: Aufschlag nach rechts oder auf den Körper. Links: Aufschlag nach links. "Die Schwierigkeit bestand von diesem Zeitpunkt nicht mehr darin, ihm den Aufschlag abzunehmen - sondern, ihn nicht wissen zu lassen, dass ich das weiß", berichtete Agassi später: "Ich habe es ihm erst erzählt, als er seine Karriere beendet hatte, beim Bier auf dem Oktoberfest. Es wäre beinahe von der Bank gekippt."

Daniil Medwedew (Russland) hatte ein ähnliches Problem wie Becker. Nach dem rasanten Aufstieg in der vergangenen Saison begannen die Gegner, ihn zu analysieren, sie fanden einen interessanten Aspekt bei seinem Aufschlag: Sie konnten anhand des Ballwurfes erkennen, wie Medwedew serviert - also Richtung und sogar Drall. Plötzlich verlor er Aufschlagspiele, doch weil heutzutage fast alles über jeden bekannt ist, fand Medwedew seinen Spleen heraus - und korrigierte ihn während der Coronapause. Statt mehr als 60 sind es nur noch 30 Zentimeter Streuung, er hat bei diesen US Open erst drei Aufschlagspiele und noch keinen Satz verloren.

Medwedew, 24, ist ein Tüftler, der Tennis bei aller Dynamik als Strategiespiel interpretiert. Nach dem 7:6 (6), 6:3, 7:6 (5) gegen Landsmann Andrej Rublew trifft er im Halbfinale am Freitag auf Dominic Thiem, einen Spieler, der ebenfalls an seinen Fähigkeiten feilt, diesen Sport aber auch wieder als Spaß interpretiert. Er hatte sich schon im vergangenen Frühling von Langzeit-Trainer Günter Bresnik getrennt und arbeitet seitdem mit Nicolas Massu (Chile). Seine ohnehin flinken Beine sind noch ein wenig flinker geworden, er dürfte mittlerweile - bei allem Respekt vor Rafael Nadal - der beweglichste Spieler der Welt sein.

Vor allem aber hat er seinem Spiel ein paar Nuancen hinzugefügt, das war beim 6:1, 6:2, 6:4 im Viertelfinale gegen Alex di Minaur (Australien) zu beobachten: Er schubst Returns nicht mehr nur zurück ins Feld, sondern versucht zu attackieren. Er serviert mit stärkerem Drall und rückt häufiger ans Netz. "Es sind wirklich große Unterschiede", sagt Thiem über diese kleinen, aber auf höchstem Niveau so bedeutsamen Veränderungen. Er weiß ja, von Becker oder Medwedew, dass es kaum Schlimmeres gibt für einen Tennisspieler, als wenn die anderen wissen, wie man spielen wird: "Massu hat mein Spiel weniger vorhersehbar gemacht."

Es werden also Tüftler unter sich sein, und man darf die Aussage von Medwedew durchaus als Drohung verstehen. Als er nach der Partie gegen Rublew gefragt wurde, wen er sich denn als Gegner wünschen würde, antwortete er trocken: "Ich wünsche mir nie so was. Ich werde dieses Spiel gucken, und dann werde ich zwei Tage lang versuchen, eine Strategie für diesen Gegner zu entwickeln." Sicher ist: Thiem wird nicht vorhersehen können, wohin Medwedew aufschlagen wird.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2020
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