Süddeutsche Zeitung

TSV 1860 München:Hymnen des Irrsinns auf Bierofka

Lesezeit: 2 min

Von Markus Schäflein und Philipp Schneider

Immerhin einen halbwegs positiven Nebeneffekt hatten die mal wieder sehr umständlichen Umstände beim TSV 1860 München an einem der düstersten Tage seiner Geschichte: Die Verabschiedung beziehungsweise Flucht des Trainers Daniel Bierofka von seinem Herzensklub zog sich von früh morgens bis fast Mitternacht, ehe darüber Gewissheit verkündet werden konnte. Nur weil also so viele Stunden verstrichen, konnte es geschehen, dass in der um 23.11 Uhr verschickten Pressemitteilung die Verantwortlichen und teils verfeindeten Menschen so zahlreich sprechen und lobhudeln durften. Jemand muss ordentlich Zeit gehabt haben zu formulieren.

Bierofka sprach, Vereinspräsident Robert Reisinger sprach, der Investor Hasan Ismaik redete, dazu noch beide Geschäftsführer, Michael Scharold und Günther Gorenzel. Hätte die Wirtin Christl nicht erst kürzlich ihr Löwenstüberl endgültig hinter sich zugesperrt, sie wäre vielleicht auch noch zu Wort gekommen. Hat man jemals schon einen so vielstimmigen Chor gehört beim Löwen? Vermutlich nicht. Jedenfalls kann man sich nicht erinnern.

Dass es so geschah, ist aufschlussreich: Zunächst verdeutlich es, dass allen Beteiligten am Dienstag klar war, dass sich Bierofkas Flucht zu einem Politikum entwickeln könnte, das ordentlich Sprengkraft in sich birgt. Zugleich legt die beachtliche Sammlung an Hymnen auf Bierofka, deren Positivität weit über die bei Trainerverabschiedungen üblichen Höflichkeitsfloskeln hinausreicht, den Irrsinn dessen offen, dass Bierofka überhaupt geht. Nach der Lektüre der Mitteilung stellt sich der verdatterte Leser unweigerlich die Frage: Herrschaftszeiten, warum eigentlich hat der Klub nicht alles daran gesetzt, zu verhindern, dass er geht?

Für Geschäftsführer Scharold war Bierofka der "Anker für das taumelnde Schiff" in der Regionalliga. Für Geschäftsführer Gorenzel ein "unglaublicher Fachmann an der Linie". Für Präsident Reisinger "das Gesicht des Vereins". Und für Ismaik "geht Daniel Bierofka als Held". Vor dem Hintergrund, dass Bierofka am vergangenen Wochenende massiv Anstoß genommen hatte an einem Artikel im Kicker, in dem eine anonyme Quelle den Vorwurf gestreut hatte, Bierofka sei als Fußballtaktiker zu wenig Fachmann an der Linie, ist vor allem die Aussage des Sport-Geschäftsführers aufschlussreich.

Am Mittwoch um 10 Uhr stand nun jedenfalls Oliver Beer, 40, als Fachmann an der Linie am Trainingsplatz. Offiziell darf er sich so zwar nicht bezeichnen. Der ehemalige Assistent von Bierofka, der in der Jugend für Sechzig und die Bayern und danach in der zweiten und dritten Spielklasse in Schweinfurt und Ingolstadt spielte, besitzt nur den sogenannten A-Schein als Trainer. Dieser berechtigt lediglich zur Anleitung von Frauen- und Juniorenmannschaften sowie von Männermannschaften unterhalb der dritten Liga. Aber für ein paar Partien, ehe Gorenzel einen Nachfolger für Bierofka gefunden hat, drückt der Deutsche Fußball-Bund in solchen Angelegenheiten ein Auge zu. Gorenzel besitzt sogar eine Lizenz als Fußballlehrer und könnte sich theoretisch selbst an die Seitenlinie begeben, aber diese Lösung werde es nicht geben, betont er in der Mitteilung: "Das gebührt der Respekt vor Daniel."

Für Beer sind die anstehenden drei Partien eine große Herausforderung, aber auch eine Chance - denn zu verlieren hat er wenig. Die Löwen müssen zunächst beim Tabellendritten Hallescher FC antreten, dann haben sie das Stadtderby gegen den FC Bayern München II zu bestreiten, der gerne mal seine Bundesliga-Prominenz in der dritten Liga parkt, und dann müssen sie zum Tabellenzweiten SpVgg Unterhaching. Siege in diesen Spielen kann Sechzig für seine Mission Klassenerhalt nicht einplanen - wenn Beer aber doch der ein oder andere gelingt, insbesondere in den Derbys, kann er sich durchaus profilieren. Nicht als Anker, nicht als Gesicht, nicht als Held. Aber immerhin als Trainer.

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SZ vom 07.11.2019
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