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Tour de France:Verhängnisvolle Umarmung für den kleinen Kannibalen

Lesezeit: 5 min

Auffälliges Surren an den Hinterrädern, Verspätung von fast einer Stunde und eine Armstrong-Geste: die Geschichten der 108. Tour abseits von Dominator Pogacar.

Von Johannes Aumüller

Die Tour 2021 war ein Rennen, das ganz im Zeichen von Tadej Pogacar stand. Drei Etappensiege gelangen dem Slowenen und ein 30-Kilometer-Solo, das es so lange nicht mehr gab. 5:20 Minuten lag er im Ziel vor dem Überraschungs-Zweiten Jonas Vingegaard, seit der Lance-Armstrong-Zeit gab es nur einen Tour-Sieger mit einem größeren Vorsprung (Vincenzo Nibali/2014). Aber auch abseits von Pogacar bleibt von der Tour Erstaunliches.

Eine verhängnisvolle Umarmung

In Mourenx erhielt Mark Cavendish, 36, vergangene Woche den Segen zur Majestätsbeleidigung. Da kam der große Eddy Merckx - Spitzname zu seinen aktiven Zeiten: "Der Kannibale" - zum Start der 19. Etappe. Merckx grüßte Pogacar, den er für einen würdigen Nachfolger als Konkurrentenfresser hält und für stark genug, eines Tages seinen eigenen Rekordwert bei den Tour-Gesamtsiegen (fünf) zu überbieten. Und Merckx herzte Sprinter Cavendish, der sich anschickte, seinen Rekordwert bei den Tour-Etappensiegen (34) zu überbieten. Seit 46 Jahren stand diese Bestmarke, nun stellte sie der Brite mit vier Erfolgen während der Tour ein. Aber nach der Umarmung ging kurioserweise nichts mehr: In Libourne gab es einen Ausreißersieg, beim traditionellen Sprinterabschluss in Paris war ein sichtlich verärgerter Cavendish eingeklemmt, während der Belgier Wout Van Aert triumphierte.

Dessen verblüffende Vielseitigkeit ist schon seit Jahren ein großes Thema im Radsport, aber bei dieser Tour de France trieb er es auf die Spitze. Er gewann nicht nur die Sprintankunft in Paris, sondern auch ein Zeitfahren und die Etappe, in der es zweimal über den Mont Ventoux ging; zudem half er dem Teamkollegen Vingegaard, Klassementrang zwei abzusichern. Klar, dass so jemand auch mal selbst für eine Platzierung ganz vorne in der Gesamtwertung infrage kommt. Und klar, dass es für so einen Allrounder, erst recht für einen belgischen, nur einen naheliegenden Maßstab gibt. "Ich bin nur ein kleiner Fahrer im Vergleich zu Eddy", gab sich Van Aert bei Merckx-Parallelen bescheiden. Kleiner Rat von Cavendish: Wenn's mehr werden soll, besser nicht umarmen lassen.

Grillen statt sprinten

Auch André Greipel, 39, hat am Sonntagabend auf den Champs Elysees versucht, um den Tagessieg mitzusprinten. Platz fünf kam heraus - es war sein bestes Ergebnis dieser Rundfahrt, und zugleich sein letztes überhaupt. Nach fast 20 Profijahren und elf Tour-Teilnahmen beendet er seine bemerkenswerte Karriere. Wenn's das nächste Mal einen Berg wie den Ventoux hochgehe, habe er ein E-Bike oder grille er ein Würstchen am Straßenrand, sagte Greipel.

Für den deutschen Radsport ist das ein tiefer Einschnitt. Neben dem bereits zurückgetretenen Sprintkollegen Marcel Kittel und Zeitfahr-Routinier Tony Martin gehörte Greipel zu den Pedaleuren, die in den Zehnerjahren die Tour in eine Tour d'Allemagne verwandelten. Elf Etappensiege holte er, zwei davon in Paris. Inzwischen sind deutsche Ausreißer-Siege viel wahrscheinlicher als deutsche Sprint-Siege - so wie diesmal durch Nils Politt, einziger deutscher Tagessieger und insgesamt stärkster deutscher Fahrer.

Wirklich überraschend war diese Bilanz nicht, das Gros des gestarteten Dutzends war ohnehin für Helferrollen vorgesehen. Verblüffender war die Bilanz der Teams mit deutscher Lizenz: Bora-Hansgrohe konnte trotz des Ausfalles von Kapitän Peter Sagan sehr zufrieden sein, mit zwei Tagessiegen und Platz fünf für Kletterer Wilco Kelderman im Gesamtklassement. Bei DSM hingegen, im Vorjahr mit drei Tageserfolgen und Dauer-Präsenz in Fluchtgruppen eine prägende Equipe, lief es äußerst mau.

141 aus 184

Die Lage war aussichtslos, aber Nicholas Dlamini, 25, hat sich die letzten 21 schweren Kilometer auch noch gequält, das empfand er als Ehrensache. Dlaminis Biographie ist eine Aufsteigergeschichte: Er stammt aus einem Township nahe Kapstadt, das Fahrrad gab ihm die Chance herauszukommen, nun war der erste schwarze Südafrikaner bei der Tour. Nach einer Woche war sie für ihn vorbei: Bei der Schlechtwetteretappe nach Tignes wusste er schon am Fuß des letzten Anstiegs, dass er die Karenzzeit nicht schaffen würde. Er fuhr trotzdem bis ins Ziel, wo er so spät ankam, dass kaum noch Zuschauer da waren - fast eine Stunde über dem Limit.

Dlamini war aber längst nicht der einzige, der früh abreiste. Von den 184 gestarteten Fahrern erreichten nur 141 Paris, es war die höchste Aussteigerquote seit 18 Jahren. Die Gründe dafür waren insbesondere die vielen Stürze in den ersten Tagen und das harte, schnelle Tempo, das das Feld oft anschlug. Die Durchschnittsgeschwindigkeit war so hoch wie bei Armstrongs siebtem Tour-Sieg 2005. Eine Handvoll Fahrer wie Mathieu van der Poel oder Vincenzo Nibali stieg auch aus, weil sie sich auf die Olympischen Spiele vorbereiten wollten. Dort findet bereits am Samstag das Straßenrennen statt. Mit dabei unter anderem: Tadej Pogacar, der den Tour-Sieg mit Olympia-Gold veredeln will. Mit dabei auch: Nicholas Dlamini.

Fußtrupp hinter der Karawane

Manche Dinge ändern sich bei der Tour auch in digitalen Zeiten nicht. So gibt es bis heute ein Auto, das kurz vor dem Feld fährt und die Zuschauer am Streckenrand via Lautsprecher über die Lage im Rennen informiert. Mit ordentlich Tempo rast es vorbei, man hört bestenfalls ein "Quentin Pacher, deux minutes" oder ähnliches - während sich die meisten Zuschauer konzentriert dem Smartphone widmen, auf dem sich der Rennverlauf präzise verfolgen lässt.

Auch die berühmte Werbekarawane ist so ein ewiger Bestandteil. Zwei Stunden vor dem Peloton fährt sie los und verteilt kleine Souvenirs an die Fans am Straßenrand. Aber eines ist in Corona-Zeiten anders, zumindest in den Bereichen, in denen wie am Start oder an manchen Anstiegen besonders viele Menschen warten. Nach der Karawane kommt noch ein Fußtrupp, dessen Mitglieder auf dem Rücken einen großen Bottich tragen. Darin: ordentliche Mengen Desinfektionsspray, das sie dann verteilen.

Fahrer, hört die Signale

Apropos manche Dinge ändern sich nie: Bei der 108. Auflage der Tour kehrte das Dopingthema so nachdrücklich wie nie ins Feld zurück. Das hat der Radsport immer gerne verdrängt in den vergangenen Jahren und stets darauf verwiesen, dass es seit 2015 (Luca Paolini/Kokain) bei der Tour keinen Dopingfall mehr gab. Tatsächlich war der Zweifel stets groß, ob verblüffender Leistungen und zahlreicher einschlägig vorbelasteter Figuren im Tross. In den Pyrenäen rückte nun die Gendarmerie an, um das Hotel der starken Bahrain-Victorious-Equipe (drei Etappensiege, Platz eins in der Teamwertung) zu durchsuchen. Die Staatsanwaltschaft Marseille ermittelt wegen eines Dopingverdachts, Bahrain wehrt sich. Doch ihr Fahrer Matej Mohoric fiel auf, als er beim Etappensieg in Libourne eine Armstrong-Geste wiederholte: Er verschloss mit einem imaginären Reißverschluss den Mund und legte warnend seinen Zeigefinger darauf. Kritische Geister sollten mal besser schweigen, war die Botschaft.

Kritische Geister sollen aber nicht nur nichts sagen, sondern am besten auch nichts mehr hören. Kurz vor Tour-Ende veröffentlichte die Schweizer Zeitung Le Temps Recherchen, nach denen einige Fahrer bei vier Mannschaften im Feld akustische Auffälligkeiten vernahmen: ein ungewöhnliches Surren, das wohl vom Hinterrad komme. Mögliches Technik-Doping ist seit zirka einem Jahrzehnt ein großes Thema im Feld. Nun ist der Verdacht, dass in der Nabe eines Laufrades ein kleiner Motor eingebaut sei, der ein paar Watt zusätzlich bringe - und der auch bei den Kontrollen durch die Veranstalter nur schwer zu entdecken sei.

"Wir hören keine Geräusche", sagte dazu Dominator Pogacar. Na dann, weiter gute Fahrt.

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