Süddeutsche Zeitung

Julian Alaphilippe bei der Tour:Der Rock 'n' Roller des Peloton

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Kaum einen Radfahrer mögen die Franzosen so gerne wie Julian Alaphilippe. Seine frühe Fahrt ins Gelbe Trikot vertreibt die Corona-Tristesse der Tour ein wenig.

Von Johannes Aumüller, Sisteron/Frankfurt

Der Franzose Julian Alaphilippe kennt das Gefühl, das Gelbe Trikot zu tragen - und auch das Gefühl, dass dem Tragen dieses Gelben Trikots eine nationale Bedeutung zukommen kann. Bei der Vorjahresauflage der Tour de France fuhr Alaphilippe zwei Wochen lang im Maillot Jaune, und die Radnation Frankreich, die schon seit 1985 auf einen heimischen Gesamtsieger wartet, berauschte sich an "Loulou", der im Grunde ein Puncheur und Klassikerspezialist ist, aber auf wundersame Weise bis kurz vor Ende der Rundfahrt das begehrte Leibchen gegen alle Klassementfahrer verteidigte.

Am Sonntagabend eroberte Alaphilippe, 28, wieder das Gelbe Trikot, das er am Montag beim Sprintsieg von Caleb Ewan erwartungsgemäß verteidigte - und das er daher auch trägt, wenn am Dienstag in der Skistation Orcières-Merlette die erste Bergankunft der Tour 2020 ansteht. Und weil in diesem Jahr alles anders ist, kommt Alaphilippes Fahrt im Führungstrikot eine noch größere Bedeutung zu.

Es ist bekanntlich eine große Corona-Tristesse, die diese 107. Tour de France prägt. Das Peloton bewegt sich in einer abgeschotteten Blase. Die übliche Volksfeststimmung kann wegen der Situation und der Beschränkungen nicht aufkommen. Über dem Rennen schwebt die ständige Gefahr eines Abbruchs. Und so schwankt die Radsportnation zwischen Kopfschütteln über die Unvernunft, einen derart gewaltigen Tross wie die Tour in Zeiten eines steigenden Infektionsgeschehens durchs Land zu schicken, und dem Gedanken, dass die Tour auch so etwas wie ein Zeichen der Hoffnung sein soll. Da kann zur Aufhellung von Stimmung und Atmosphäre kaum etwas Besseres passieren, als einen Landsmann in Gelb zu sehen; erst recht, wenn es sich um ihren Liebling Julian Alaphilippe handelt.

"Die Fete kann beginnen", freute sich das Tour-Organ L'Equipe. Es war ein besonders emotionaler Moment, der sich am Sonntagabend auf der Promenade des Anglais in Nizza bot. Schon als Alaphilippe nach einer gewaltigen Attacke am letzten Anstieg und einem knapp gewonnenen Sprint gegen den Schweizer Marc Hirschi die Ziellinie überfuhr, streckte er die Finger gen Himmel; später saß er auf dem Bürgersteig und schluchzte hemmungslos. Im Juni war sein Vater gestorben - just an dem Tag, an dem die Frankreich-Rundfahrt ursprünglich hätte losrollen sollen. An ihn dachte Alaphilippe nun nach seiner Siegfahrt: "Es erfüllt mich mit Stolz. Das Gelbe Trikot zu tragen, ist eine große Verantwortung, ich werde es jeden Tag verteidigen. Ich widme es meinem verstorbenen Vater", weinte er in die Kameras.

Der Mann aus dem Örtchen Saint-Amand-Montrond in der geografischen Mitte Frankreichs genießt schon seit Jahren eine besondere Anerkennung. Die französischen Radfans mögen es, wie kühn und angriffslustig er sich auf und neben dem Velo präsentiert. Als "Rock 'n' Roller" des Pelotons ist er irgendwann klassifiziert worden. Zu niemandem im Peloton passt die Maske, die Alaphilippe auch bei der Siegerehrung tragen muss, besser als zu ihm, weil er mit seiner Art und seinem Bart bisweilen so wirkt, als sei er einem Mantel- und Degen-Film entsprungen.

In jedem Fall hat sich Alaphilippe so zu einem der stärksten Fahrer des Pelotons entwickelt, insbesondere bei den großen Eintagesrennen. Mailand - Sanremo gewann er ebenso schon wie die Clasica San Sebastián und den Flèche Wallonne. Der Rad-Weltverband (UCI) führte ihn zwischenzeitlich auf Platz eins der Weltrangliste - auch wenn diese im Radsport nicht so eine große Aussagekraft hat wie im Tennis oder Golf. Die vorläufige Krönung seiner Karriere war sein erstaunlicher Tour-Auftritt vor einem Jahr, als er nach zwei Wochen in Gelb in der Endabrechnung immerhin auf Platz fünf kam.

Manchem Branchenbeobachter war die Entwicklung nicht ganz geheuer; ein Quell dieser Skepsis war auch Alaphilippes Umfeld: Das Team Deceuninck-Quickstep hat ihn vor acht Jahren entdeckt, seitdem steht er dort unter Vertrag. Das Sagen hatte über all die Zeit der berüchtigte Teamchef Patrick Lefevere, der schon oft mit dem Dopingthema in Berührung gekommen ist, auch wenn er Fehlverhalten stets zurückwies. Aktuell ermittelt die Anti-Doping-Organisation des Radsports gegen den belgischen Deceuninck-Fahrer Remco Evenepoel, weil nach dessen schlimmen Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt vor zwei Wochen ein Betreuer schnell einen weißen Gegenstand aus der Trikottasche des Belgiers zog und im eigenen Hosenbund verstaute.

Bei Alaphilippe besteht nun die Hoffnung, dass ihm ein ähnlicher Coup wie im Vorjahr gelingt. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Denn die erste Woche der Tour ist ungewöhnlich schwer. Von Nizza aus zieht es das Peloton durch die Cevennen und das Zentralmassiv in Richtung Pyrenäen, mitsamt Bergankünften am Dienstag und am Donnerstag. Die Favoriten auf den Gesamtsieg dürften sich früh zeigen, aber auf derartigen Rampen hatte Alaphilippe schon im Vorjahr gut mitgehalten. Seine Probleme fangen erst im Hochgebirge an, in den Pyrenäen und Alpen. Nur: Wer weiß schon, wie lange die Rundfahrt dauert? Wenn Frankreich Gelb trägt, kann das auch noch einen Effekt haben, den die Lenker der Tour wohl gar nicht beabsichtigen. Denn es gilt ja in diesem Jahr der Appell, dass die Fans das Rennen möglichst vor dem Bildschirm verfolgen sollen. Bei den ersten Etappen zeigte sich, dass dennoch viel Publikum kommt. Wenn Alaphilippe jetzt wieder so erfolgreich ist, fühlen sich vielleicht noch mehr von ihnen animiert, ihrem Liebling an der Strecke zuzujubeln.

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SZ vom 01.09.2020
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