Süddeutsche Zeitung

Tour de France:Rock 'n' Roll auf dem Rad

Lesezeit: 4 min

Von Johannes Aumüller, Nancy/Epernay

Es hat natürlich nicht lange gedauert, bis die Begeisterung über den Coup von Julian Alaphilippe ausbrach. Die Haus- und Hofdichter von der L'Équipe widmeten ihm gleich mal sieben Seiten. Am Dienstagmorgen feuerten ihn vor dem Start 150 Fans vor dem Teamhotel lautstark an. Und als er danach mitsamt den 175 anderen Tour-Startern die Flachetappe von Reims nach Nancy bestritt, die Alaphilippes Teamkollege Elia Viviani im Spurt gewann, da schauten die Heerscharen am Straßenrand natürlich nicht zuletzt nach ihm, dem Mann im Gelben Trikot.

Ihrem Mann im Gelben Trikot.

Die Tour de France hält sich gemeinhin für groß genug, um sich an ihrer bloßen Existenz zu berauschen. Aber wenn französische Fahrer erfolgreich sind, dann ist dieser Rausch besonders groß. Und es hat nun immerhin fünf Jahre gedauert, bis wieder ein Franzose das Maillot Jaune anziehen durfte, dieses mythische Stückchen Stoff, das es nun seit exakt 100 Jahren gibt. Tony Gallopin war es damals, und das auch nur für einen Tag. Und nun kam also Julian Alaphilippe als insgesamt 85. Fahrer der Gastgeber-Nation hinzu. "Ich kann es noch gar nicht richtig begreifen, dass ich das Gelbe Trikot habe. Das ist unvergesslich", sagte er.

Dass es just Alaphilippe war, der die Rad-Nation von ihrem fünfjährigen Warten erlöste, passte nur zu gut ins Bild. Die Franzosen lieben den 27-Jährigen - Spitzname "Loulou", geboren in einem Städtchen namens Saint-Amand-Montrond im Herzen Frankreichs - nicht zuletzt dank seines angriffslustigen und unkonventionellen Auftretens. Mit seinem akkurat getrimmten Spitzbärtchen könnte er auch als Bestandteil der Musketier-Fraktion durchgehen oder als Mitglied einer Rockgruppe, und zumindest Letzteres ist kein Zufall. Denn Alaphilippe stammt aus einer durchaus musikalischen Familie. Sein Vater leitete einst ein Orchester, und bevor sich Julian dann öfter aufs Fahrrad setzte, setzte er sich erst einmal öfter hinters Schlagzeug. Und irgendwann entschied er sich, den Rock'n'Roller lieber gleich auf dem Rennrad zu geben.

Alaphilippe fährt mit dem Herzen und nicht nur nach Vernunft, wie die Watt-fixierten Favoriten

2013 entdeckte ihn Patrick Lefevere, der umstrittene Patron der Equipe Quick-Step, und seitdem schoss Alaphilippe steil nach oben; für manchen Beobachter durchaus ein bisschen zu steil. Scharfe, explosive Antritte sind sein Markenzeichen, Ausreißattacken in schweren Finals, und manch einer im Peloton schätzt an ihm, dass er öfter mal mit dem Herzen fährt als immer nur mit dem Hirn (wie etwa die Watt-fixierten Pedaleure des britischen Teams Ineos, vormals Sky). Ein Klassiker-Spezialist ist Alaphilippe, ein Puncheur, siegreich schon beim Wallonischen Pfeil, der Clásica San Sebastián und bei Mailand - San Remo. Im Vorjahr gewann er sogar das Bergtrikot und zwei Etappen bei der Tour, und Erster in der Weltrangliste des Weltverbandes UCI ist er inzwischen auch. Die ist zwar aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen im Radsport-Gewerbe (Rundfahrer, Klassiker, Sprinter) nicht ganz so aussagekräftig wie etwa das Ranking im Tennis oder im Golf, aber von ungefähr steht da natürlich niemand.

Das Gelbe Trikot ist nun die vorläufige Krönung dieser Karriere. Dass Alaphilippe es versuchen würde in dem schwierigen Finale durch die Weinberge von Epernay, war nicht wirklich überraschend - jedoch schon, wie stark er dabei war. Als er das Gelbe Trikot übernahm, gab es in Frankreichs Öffentlichkeit sogleich die Hoffnung, dass er es ein paar Tage behält - mindestens bis zur Etappe nach Planche des Belles Filles am Donnerstag, der ersten Bergankunft der diesjährigen Tour, einem sehr schweren Anstieg in den Vogesen mit 24 Prozent steilen Passagen. "Und danach? Das hängt von vielen Elementen ab, auch von ihm selbst", hieß es in der L'Équipe - was kaum die Erwartung versteckte, ihn noch länger vorne zu sehen.

Alaphilippe ist zwar bisher nie als Klassementfahrer in Erscheinung getreten. Solche Etappen wie am Montag nach Epernay oder auch an diesem Mittwoch nach Colmar (insgesamt vier Berge der zweiten und dritten Kategorie) sind wie für ihn geschaffen - die Pässe in den Alpen oder in den Pyrenäen sind sein Lieblings-Revier bisher nicht. Aber die Sehnsucht der Franzosen nach einem neuen Tour-de-France-Champion aus ihren Reihen schwingt halt immer mit und färbt schon mal die Realitäten.

34 Jahre lang warten sie schon, Bernard Hinault war der bisher letzte Triumphator. In diesem Jahr ruhen ihre Hoffnungen mal wieder auf Romain Bardet (28, Ag2r) und Thibaut Pinot (29, FDJ). Doch Bardet, der in den vergangenen fünf Jahren stets unter die besten Zehn im Gesamtklassement und zweimal sogar auf das Podium gekommen war, hat sich im Team-Zeitfahren nun schon eine Minute Rückstand auf die Ineos-Kapitäne Geraint Thomas und Egan Bernal eingefangen. Und beim impulsiven Pinot wirkte es in den vergangenen Jahren oft so, als sei der Druck bei seinem Heimrennen für ihn zu groß.

Von daher wird nun schon die Debatte geführt, ob Julian Alaphilippe nicht irgendwann doch der Mann sein könnte, der Frankreich vom Warten auf den Toursieg erlöst. Von seiner Statur her - 1,73 Meter groß und 62 Kilo schwer - könnte er sich schon bei den Kletterern einreihen, falls er denn neue Prioritäten setzen wollte. Es hat schon genügend Beispiele gegeben, bei denen ein Pedaleur im zweiten Teil seiner Karriere umgesattelt hat. Die Franzosen etwa erinnern sich stets gerne an Laurent Jalabert, der erst ein erfolgreicher Sprinter war, dann ein Klassikerfahrer, sich später in der Gesamtwertung versuchte und tatsächlich einmal die Vuelta gewann.

Doch Alaphilippes Umgebung bremst. "Julian hat uns mehrfach gesagt, dass er sich zunächst auf andere Ziele fokussieren möchte. Er will Weltmeister werden, die Lombardei-Rundfahrt sowie die Flandern-Rundfahrt gewinnen", sagte Quick-Step-Teamchef Lefevere. "Erst dann wird er vielleicht über den Gesamtsieg bei der Tour de France nachdenken."

Immerhin, ein Nein ist das nicht.

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Quelle:
SZ vom 10.07.2019
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