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Zverev bei den French Open:Weg mit den Ziegelsteinen

Lesezeit: 4 min

Alexander Zverev und Stefanos Tsitsipas fühlen sich überreif für den ersten Grand-Slam-Sieg - beide haben vor ihrem Halbfinale bei den French Open aber auch erkannt: Nur Geduld hilft.

Von Gerald Kleffmann, Paris/München

Sein bislang wichtigster Sieg in Paris in all den Jahren; erstmals am Bois de Boulogne die vorletzte Runde erreicht durch ein spielerisch teils zähes 6:4, 6:1, 6:1 gegen den körperlich angeschlagenen Spanier Alejandro Davidovich Fokina, 22; als dritter deutscher Tennisprofi nach Boris Becker und Michael Stich im Halbfinale der French Open - und was macht Alexander Zverev?

Geht vom Court Philippe Chatrier. Biegt ums Eck. Geht auf einen anderen Platz. Packt den Schläger aus. Bälle raus. Und trainiert.

"Bei meinem ersten Aufschlag hatte ich nicht so gute Prozente", erklärte er bei der Video-Pressekonferenz am Dienstagabend, "ich wollte wieder meinen Rhythmus finden." Ernst schaute er dabei, fast abwesend. Ja, eindeutig der Tunnelblick. "Ich bin froh, dass ich im Halbfinale bin", sagte er auch, "ich mache jetzt aber keine Freudentänze." So betont nüchtern hat sich Zverev, dieser Ausnahmespieler, Nummer sechs der Welt, noch nie gegeben. Nein, er ist zweifellos nicht in Frankreichs Metropole gekommen, um mit einem guten Ergebnis abzureisen. Sein Maßstab ist einzig, den Coupe des Mousquetaires hochzustemmen, an dem sonst immer nur einer rumknutscht, dieser ewige, lästige Rafael Nadal.

Spät am Abend saß im Interviewraum dann Stefanos Tsitsipas, der mit seiner Lockenpracht und dem Sprenkelbart aussieht, als wolle er die sieben Weltmeere erobern. Für den Anfang reicht aber auch ihm, dem 22-Jährigen aus Athen, erst einmal ein klitzekleiner Triumph am Sonntag. Da wäre das Männer-Finale. Auch er nun also erstmals in Roland Garros auf der großen Bühne, vorletzter Vorhang, Halbfinale, sein drittes bei Grand Slams in Serie, Konstanz, Konstanz, das hatte er sich vorgenommen, nur so gelange er an die süßeste aller Belohnungen, einen dieser verdammten Major-Pokale. Oder sollen diese bis ans Lebensende die großen Drei einheimsen - Federer, Nadal, Djokovic? Zverev und Tsitsipas rasten bei dem Thema der Pokalverteilung nicht gleich aus. Aber Lust haben sie auch nicht mehr darauf, Komparsen zu sein, die Spalier stehen, um zu applaudieren und sich anhören zu müssen: Ihr gewinnt noch genug!

Es ist ein Wahnsinn, was Tennis mit den Seelen anstellen kann

Die schlechte Nachricht: Nur einer wird die Chance haben, im Finale, womöglich gegen Nadal, womöglich gegen Djokovic, um die letzte Weihe zu kämpfen. Sie treffen direkt im Halbfinale aufeinander, am Freitag. Die gute Nachricht: Einer wird aber die Chance haben. Und: Mental waren diese zwei vielleicht noch nie so bereit, zum Coup anzusetzen. Das Drama um Naomi Osaka, die dem Druck Tribut zollte und sich aus dem Turnier zurückzog, zeigte die eine Seite, die dieser intensive Solo-Sport an Nebenwirkungen erzeugen kann. Ängste kann er auslösen, lähmen, einsam machen. Die andere Seite: Das Selbstvertrauen nimmt zu; die Gier zu spielen. In dieser Phase sind Zverev und Tsitsipas. Es ist, ganz allgemein, immer wieder ein Wahnsinn, was Tennis mit seinen Akteuren und vor allem mit ihren Seelen anstellt.

Zurück zu Στέφανος Τσιτσιπάς, wie er im Griechischen geschrieben wird. 6:3, 7:6, 7:5 hatte Tsitsipas den listigen Daniil Medwedew abgefieselt. Der Russe verzockte sich am Ende grandios, als er beim Matchball plötzlich von unten aufschlug. Bämm! machte es da, Tsitsipas drosch ihm den letzten Ball um die Ohren, Thor hätte sich gefreut, der Gott mit dem Hammer. Einen "Jahrtausendschlag" hätte Medwedew da produziert, spottete Tsitsipas süffisant. Angeblich mögen sich die zwei nicht so, aber Insider sagen: viel Show dabei.

Erstes Halbfinale also nun auch für Tsitsipas in Paris, "privilegiert" fühle er sich, gab er zu Protokoll, gearbeitet habe er, jeden Tag, für genau solche Momente. "Aber", holte er aus: "Mein Ego sagt mir, ich will mehr."

Zverev und Tsitsipas, diese beiden begnadeten Sportler, talentiert, athletisch, dauernd von fürsorglichen Helfern umgeben, haben das Warten hörbar leid. Aber, und jetzt wird es interessant: Beide geben zu verstehen, dass sie dazugelernt haben. Und dass sie wissen: Nur wenn sie die Kunst des Wartens beherrschen, werden sie reüssieren. Im Grunde stecken sie in einer Situation wie die Darsteller in dem grandiosen Buch "Momo" von Michael Ende. Wer um das Nirgend-Haus herum schnell vorankommen will, muss langsam gehen. Wer rennt, kommt nicht voran. Und deshalb eint beide auch eine neue Verhaltensauffälligkeit: Freude ist nicht oder höchstens in homöopathischen Dosen erlaubt. Nichts ist erreicht.

Zverev machte klar, wie sehr er den Umgang mit der Geduld lernen musste. Vor allem bei Grand Slams, die "ein ganz anderes Tier" seien. "Du musst alle zwei Tage deinen Job machen und ihn gut machen", sagte Tsitsipas, als hätten sich die beiden thematisch abgesprochen. Zverev räumte in seinem Monolog ein, dass die Jungen "eine Lernkurve" zu bewältigen hätten. Er hätte sich selbst zu oft "Ziegelsteine" aufgeschultert. Er gewann einiges: Masters-Titel, die ATP-Finals; doch bei den Majors gelang nicht der letzte Schritt zur Vollendung. Tsitsipas zitierte gar einen Satz von Winston Churchill, eine längere Geschichte, mit der Quintessenz: "Es ist nicht so wichtig, sich darum zu kümmern, was andere über einen denken." Zverev befand, er sei ruhiger geworden bei diesen Blockbuster-Turnieren - "aber das Ziel hat sich nicht geändert". Langsamer gehen heißt für ihn daher: wirklich nur das nächste Match sehen. Nicht das übernächste. Wenn man Zverev in diesen Tagen ärgern will, muss man ihn nur irgendwas zum Finale fragen. Das blockt er gleich weg.

Überzeugend würgt Zverev eine Debatte ab

Körper und Geist durch zwei Wochen voller Unwägbarkeiten so zu lotsen, dass man am Ende zulegen kann, ist eben genau jene Fähigkeit, die Champions von Viertel- und Halbfinalisten unterscheidet. Tsitsipas, der ja auch sehr putzig sein kann, gab zu, dass er viel darüber nachgedacht habe, was er besser machen könne. Sein nicht ganz überraschender Vorsatz nun: "weniger nachdenken, mehr handeln." Und, da hatte Osaka ja ihrerseits absolut Recht: Zweifel ausblenden, die durch manche Frage geweckt werden könnten. Oder notfalls clever wegmoderieren.

Zverev beherrscht auf einmal auch diese Disziplin. Seine Gegner bis jetzt waren ja nicht gerade aus der oberste Weltranglisten-Region. "Am Ende des Tages habe ich gegen die Spieler gespielt, die vor mir waren", sagte er cool dazu nur, "ich kann mir die Spieler nicht aussuchen, gegen die ich spiele." Deckel drauf. So würgt man Debatten ab. Reif fühlen sich Zverev und Tsitsipas ganz sicher nicht für ihren jeweils ersten Grand-Slam-Titel. Eher überreif.

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