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Schwimmen:Von Gold in die Entziehungsklinik und wieder zu Gold

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Michael Phelps hatte seine Karriere als Olympiaschwimmer beendet. Er trank, er wollte nicht mehr leben und traf dann eine Entscheidung, die ihn zu einem anderen Menschen machte.

Von René Hofmann, Rio de Janeiro

Es war 1.23 Uhr, als der erfolgreichste Athlet der Olympia-Geschichte nach Hause ging. Genauer gesagt: nach Hause schlich. Hängender Kopf, hängende Schultern. Der erfolgreichste Athlet der Olympia-Geschichte war offensichtlich nur noch eines: müde.

Michael Phelps hat bei den Olympischen Spielen in Rio seine eindrucksvolle Medaillensammlung noch einmal auf eindrucksvolle Weise vergrößert. Nachdem er in der Nacht zum Montag bereits mit der 4 x 100-Meter-Freistil-Staffel zu Gold gekrault war, jagte er in der Nacht zum Mittwoch erst über 100 Meter Schmetterling zu Gold und dann - nur 90 Minuten später - mit der 4 x 200-Meter-Freistilstaffel der Amerikaner.

Phelps hat jetzt 21 Gold-Medaillen beisammen; das sind mehr, als ganz Österreich bei Sommerspielen geholt hat. Sein Auftritt in dieser Nacht: Er war historisch und unterhaltsam und bewegend. Zum ersten Mal sprang mehr als ein Funke über im Olympic Aquatics Stadium. Phelps zündete, wieder einmal, ein ganzes Feuerwerk.

"Seit 16 Jahren meine Brot- und Butterstrecke": So nennt Phelps die 200 Meter Schmetterling. Vor vier Jahren, bei den Spielen in London, hatte es für ihn über die Strecke aber weder Brot noch Butter gegeben, sondern eine Niederlage, an der er mächtig zu kauen hatte. Um Handbreite unterlag Phelps beim Anschlag dem Südafrikaner Chad le Clos. Michael Phelps hat in seiner Karriere mehr als olympische Goldmedaillen gewonnen. Mit Silber musste er sich bisher nur zweimal abfinden. Diese Niederlage - sie schmerzte richtig.

Nach den Spielen in London ließ Phelps das Schwimmen zunächst einmal bleiben. Er verkündete sein Karriereende. Aber lange blieb es dabei nicht. Im April 2014 verkündete er das Ende vom Karriereende. Er kehrte in die Bahn zurück, sein Leben aber lief nicht wirklich in geordneten Bahnen.

Ende September stoppte eine Polizeistreife in Baltimore an einem Montag gegen ein Uhr in der Nacht seinen Range Rover. Phelps kam aus dem Casino. Phelps war 135 km/h gefahren, wo 70 km/h erlaubt waren. Und er hatte mehr Alkohol getrunken, als im US-Bundesstaat Maryland für Autofahrer erlaubt ist. Es war das zweite Mal, dass er dabei erwischt wurde. Die Polizisten nahmen Phelps mit auf die Wache. Der wusste: Die Sache würde nie geheim bleiben. Wenige Stunden später schickte er seinem Manager eine Textnachricht: "Ich will nicht mehr am Leben sein." Der erfolgreichste Olympia-Teilnehmer - er war am Boden zerstört.

Phelps entschloss sich, eine Therapie-Einrichtung zu besuchen. Therapie-Einrichtungen gibt es viele in den USA. Und nicht wenige, die sich auf Prominente spezialisiert haben, liegen in Kalifornien oder an anderen hübschen Orten, von denen aus es sich wunderbar aufs Meer blicken lässt. Phelps hätte dort einchecken können. Aber er entschied sich für einen Flachbau in der Nähe von Wickenburg in Arizona. Bis zum nächsten Meer sind es von dort fast 600 Kilometer. Phelps blieb sechs Wochen. Danach war er ein anderer. Das sagt er selbst. Das sagen aber auch diejenigen, die viel mit ihm zu tun haben. Bob Bowman zum Beispiel, der Phelps trainiert, seit er elf ist.

Comeback-Geschichten sind oft faszinierende Geschichten. Phelps U-Turn ist dann aber doch noch einmal ein ganz besonderer: Der erfolgreichste Olympia-Teilnehmer der Geschichte, zurück aus tiefer Depression, auf Revanche-Tour, begleitet von seiner Verlobten und dem gemeinsamen, gerade einmal drei Monate alten Sohn - da schaut das Publikum fasziniert zu, und nicht nur das in den USA, wo sie Comeback-Geschichten noch ein bisschen mehr lieben als überall sonst. Und Phelps enttäuschte das Publikum nicht.

Er kam in Stars&Stripes-Socken. Auf den Kopfhörern, die er bis zum Startblock trug, prangte das Star-Spangled-Banner. Er habe es gehasst, dass die Welt in ihm immer den All-American-Boy gesehen habe, hat er einmal gesagt. In dieser Nacht aber war davon nichts zu sehen.

Phelps kam langsamer vom Block als le Clos. Aber die Luft ist ja auch nicht sein Element. Phelps' Element ist das Wasser. Nach 50 Metern war Phelps vor le Clos. Als Erster wendete der Ungar Laszlo Cseh, aber das war Phelps egal. Das ganze Rennen über hatte er nur Augen für einen: für le Clos, der auf der Bahn neben ihm schwamm. Wie in jedem Finale waren auch in diesem acht Schwimmer im Becken. Für Phelps aber ging es nur um den einen. Für ihn ging es nur gegen den einen. Gegen den, der ihn in London bezwungen hatte.

"Die letzte Wand", so nennen die Schwimmer den Anschlag. Und je näher diese letzte Wand kam, desto gewisser konnte Phelps sich sein, dass ihm die Revanche glücken würde.

Am Ende schwamm er nicht gegen le Clos, er schwamm gegen den Japaner Masato Sakai, und der kam ihm letztlich sogar noch näher, als er in London le Clos gekommen war. Vier Hundertstelsekunden trennten den Gold- am Ende vom Silbermedaillen-Gewinner (Phelps 1:53,36 Min., Sakai 1:53,40). Bronze ging an den Ungarn Tamas Kenderesi (1:53,62). Chad le Clos? Wurde Vierter, von Phelps um sieben Zehntelsekunden deklassiert.

Das Publikum tobte. Und Phelps heizte es noch weiter an. Er zog sich auf die Schwimmleine und hob beide Arme in die Luft. Wie ein König saß er da und ließ sich feiern. Ein König auf wackeligem Thron zwar, aber ganz in seinem Element. Bei der Siegerehrung 50 Minuten später war Phelps dann sehr gerührt. Und spätestens bei den Bildern mit Baby Boomer waren es wohl auch die argwöhnischsten Zuschauer. Der Sport ist ja immer auch ein Illusionstheater. Die Zweifel, ob da wirklich alles mit rechten Dingen zugeht - an diesem Abend rückten sie in den Hintergrund. Die Wucht der Emotionen entfaltete ihren vollen Zauber.

Eine gute Geschichte wäre jetzt zu Ende. Aber Michael Phelps liefert eben nicht nur gute Geschichten. Er liefert Michael-Phelps-Geschichten. Stories too good to be true, wie sie dort sagen, wo er herkommt: Geschichten, die unwirklich erscheinen, weshalb man in einigen Jahren vielleicht noch einmal ganz anders auf diese Nacht blicken wird, wie man ja viele Wiederholungen sportlicher Glanztaten heute mit ganz anderen Augen sieht.

In der Nacht zum Mittwoch war im Estádio Aquático Olímpico nach der Siegerehrung von Michael Phelps erst einmal nichts mehr zu sehen. Er blieb verschwunden, bis die Teilnehmer des letzten Rennens aufgerufen wurden. Die Teilnehmer an der 4 x 200-Meter-Freistil-Staffel. Neunzig Minuten nach dem Rennen, das er unbedingt gewinnen hatte wollen, marschierte Phelps erneut ein, zusammen mit Conor Dwyer, Townley Haas und Ryan Lochte. Gerade noch dekoriert, jetzt schon wieder motiviert: So einen Stimmungswandel muss einer erst mal hinbekommen.

Phelps war als Schlussschwimmer vorgesehen. Ausgiebig feuerte er die Kollegen an, die vor ihm an der Reihe waren. Als er sich dann die enge Badekappe überziehen wollte, riss diese. Eilig borgte er sich die eines Teamkameraden. Trotz all der Hektik nahm Phelps sich noch die Zeit, sie auf links zu ziehen - der persönlichen Sponsoren wegen. Dann sprang er in sein Element und kraulte den Sieg souverän heim, trotz seiner inzwischen 31 Jahre.

Es war eine echte Phelps Night, so nennen sie das in den USA: eine Nacht, in der er alle anderen zu Komparsen degradiert. Solche Nächte hat es schon einige gegeben. Wo er diese einordnen würde, wurde Bob Boman gefragt, der Phelps durch alle begleitet hat. Die Nummer eins bleibe für immer das erste Gold, damals, 2004 in Athen, antwortete der Coach, "aber das hier ist die Nummer zwei".

Phelps wollte dem wenig später weder zustimmen noch widersprechen. "Ich hab' keine Ahnung", sagte er, als nach der Bedeutung des Erlebten gefragt wurde, "ich hab' noch keine Ahnung." Dabei fielen ihm fast die Augen zu.

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Quelle:
SZ vom 11.08.2016
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