Süddeutsche Zeitung

Schach-WM:Caruanas geheime Liste

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Von Johannes Aumüller, London/München

Plötzlich war da dieses Video. Ganz harmlos begann es, als Image-Clip für den Herausforderer Fabiano Caruana. Es zeigte den Amerikaner bei der Vorbereitung auf die laufende Schach-WM, im Gespräch mit ein paar sekundierenden Großmeistern, bei der Lektüre eines Schachbuches und sogar beim Basketball. Doch mitten im Video war ein Monitor zu sehen - und auf diesem Monitor wiederum eine interessante Dateien-Liste. Denn diese Dateien trugen Namen von verschiedenen Partien und Eröffnungen, mit denen sich Caruanas Team offenkundig intensiver beschäftigt hat.

Am Dienstag wurde dieses Video bei Youtube hochgeladen, aber kurz darauf auch wieder aus dem Netz genommen. Doch da war es längst registriert und zum Sujet geworden für den weiteren Verlauf dieses WM-Kampfes zwischen Fabiano Caruana, 26, und Weltmeister Magnus Carlsen, 27, aus Norwegen.

Vier Partien spielten die beiden Kontrahenten im Holborn College in London bisher, alle vier endeten remis. Die bisher letzte am Dienstagabend war auch die bisher unspektakulärste, was nicht zuletzt daran lag, dass Carlsen mit einem unnötigen Turm-Manöver im 15. Zug seinen kleinen Stellungsvorteil zunichte machte. An diesem Donnerstag steigt nun die fünfte Partie. Es beginnt die Phase, in der die beiden versuchen dürften, noch aggressiver auf einen Sieg zu spielen - und da kommt auch dieser Clip ins Spiel.

War es ein Versehen? Oder ein bewusster Vorgang?

Die Wahl der Eröffnung spielt im Schach eine eminent wichtige Rolle. Aber andererseits verfügen die Spitzenspieler im Computer-Zeitalter über ein riesiges Wissen zu zig Varianten. Es ist deshalb Usus, dass sich vor einer WM ein Teilnehmer mit seinem Sekundanten-Team über Wochen hinsetzt, um für bestimmte Eröffnungen neue Züge zu entwickeln, mit denen sich der Gegner überraschen lässt - und die diesen mindestens viel Bedenkzeit kosten und vielleicht sogar noch mehr.

Daher diskutiert die Schachszene nun intensiv, was es mit dem Video aus dem Caruana-Camp und den dort zu sehenden Datei-Namen auf sich hat. Mehrere Eröffnungen sowie der Verweis auf konkrete Zug-Möglichkeiten innerhalb dieser Eröffnungen ließen sich dort erkennen, Russisch, Grünfeld-Indisch - und das klassische Damengambit, das Caruana in London in seiner ersten Schwarz-Partie am Samstag auch tatsächlich spielte.

War das nun ein grobes Versehen von Caruanas Seite, diese Informationen über einen Fokus der eigenen Vorbereitungen preiszugeben? Oder war das ein bewusster Vorgang, um Carlsens Team in die Irre zu führen? Und vor allem: Was bedeutet das für die nächsten Tage des Matches? Wie sehr wollen die Kontrahenten nun Russisch, Grünfeld-Indisch oder das klassische Damengambit ansteuern oder vermeiden? Psychologie spielt im Schachsport seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle, und das beileibe nicht nur, als der bisher letzte amerikanische Weltmeister Bobby Fischer seine absurden Mätzchen veranstaltete, sondern auch in vielen kleinen Fragen wie beim Umgang mit diesem Video.

Caruana sagte nach der Partie am Dienstagabend dazu nichts. Sein Management antwortete auf eine Anfrage dazu auch nicht. Weltmeister Carlsen wiederum teilte mit, er habe von dem Video gehört und werde es sich mal ansehen. Dazu machte er dem Gegner ein Kompliment: "Caruana war mit den schwarzen Steinen bislang besser vorbereitet."

Doch auch so ein Satz gehört natürlich zum Repertoire der psychologischen Auseinandersetzung. Denn Carlsen selbst zeigte sich mit den schwarzen Steinen bisher auch stärker als mit den weißen, inklusive guter Vorbereitung. In seinen beiden bisherigen Schwarz-Partien griff er zur sogenannten sizilianischen Verteidigung, die eher zu scharfen Stellungen führen kann als viele andere Eröffnungen. In der ersten Partie erarbeitete er sich damit einen so großen Vorteil, dass er im Grunde hätte gewinnen müssen, in der zweiten waren Experten über einen Damen-Zug verblüfft und auch über den Zeitpunkt der kurzen Rochade - auch wenn daraus kein großer Vorteil entstand. Aber an diesem Donnerstag spielt der Weltmeister nun wieder mit Schwarz.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2018
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