Süddeutsche Zeitung

Saisonbeginn beim TSV 1860 München:Auferstehen aus selbstgeschaffenen Ruinen

Lesezeit: 3 min

Ein rasanter Sportchef, ein emotional brausender Trainer, sieben vielversprechende Spieler: Alles ist neu beim TSV 1860 München. Im elften Anlauf soll endlich der Aufstieg gelingen. Doch trotz der vielen Verpflichtungen fehlt noch immer einer, der Tore schießt.

Von Philipp Schneider, München

Ausgerechnet die Wundertüte. Von all den Worten, die sich im Laufe der Jahre in die Fußballersprache eingenistet haben, gilt die Wundertüte ja als Vokabel, die Fans kaum leiden mögen. Die Wundertüte dürfte gar auf Platz zwei der verhassten Unworte rangieren, schlimmer ist vielleicht nur noch der "Retortenverein". Aber der Trainer Friedhelm Funkel wird sich seine Sätze gut überlegt haben, als er sich neulich aus der Ferne in die spannende Debatte eingemischt hat, ob der TSV 1860 München in dieser Saison womöglich im elften Anlauf nacheinander endlich das ersehnte Aufstiegswunder verwirklichen wird (ein Wort, das ziemlich weit vorne rangiert in der Gunst der Fußballfreunde).

"1860 München ist für mich eine Wundertüte", sprach also Funkel: "Die haben viele unbekannte Spieler aus Südamerika oder Spanien und einen neuen Trainer, der die zweite Bundesliga nicht kennt. Mit Osako und Stoppelkamp haben sie starke Offensivspieler verloren, da muss man abwarten."

Das kam nicht gut an rund um die Grünwalder Straße, an der die Fans es tatsächlich satt haben, noch länger zu warten. In den Foren stieg die Zahl der wütenden Kommentare in beachtliche Höhe, aus zwei Gründen: Zunächst einmal wegen der Phrase von der Wundertüte, die ja streng genommen eine verschlossene Papiertüte ist, die sich käuflich erwerben lässt, obwohl der Inhalt von außen nicht zu sehen ist. Und natürlich, weil Funkel vor nicht allzu langer Zeit selbst Übungsleiter war bei Sechzig. Einer, der ebenfalls nicht aufstieg. Einer, der nach einem 0:3 im Frühjahr gegen den KSC vorzeitig entlassen wurde. Wegen "unterschiedlicher konzeptioneller Auffassungen über die Ausrichtung im Sport", hieß es damals.

Wer also verstehen möchte, was den neuen TSV 1860 München, der an diesem Montag (20.15 Uhr) zum Saisonauftakt beim 1. FC Kaiserslautern vorspielen wird, vom alten unterscheidet, der kommt an Friedhelm Funkel nicht vorbei, der ja eher die erwartbare Funkeltüte befüllt hätte: hinten schön sicher, vorne halt irgendwie.

Alles wird in Frage gestellt

Das Präsidium um Gerhard Mayrhofer stand im Frühjahr vor einer schwierigen Entscheidung. Der Weg mit Funkel, das wäre der eine gangbare gewesen. Doch der Verein wählte jenen ohne den genügsamen Karnevalisten aus Krefeld, einen Weg, auf dem alles und jeder im Klub in Frage gestellt werden sollte. Auf dem alles eingerissen wurde, was noch hätte erinnern können an die tristen zehn Jahre Zweitligazugehörigkeit.

Der Klub holte zunächst Gerhard Poschner als neuen Sportchef, einen Mann mit anderer konzeptioneller Vorstellung als Funkel, den sie in München mit guten Argumenten Beton-Friedel getauft hatten. Ein rasantes 4-3-3 würde Sechzig fortan spielen, versprach Poschner, vormals Generaldirektor bei Real Saragossa. Um die verwaisten Ränge der viel zu großen Arena mit attraktiverem Fußball zu befüllen. Dann holte er einen emotional brausenden Trainer, der diese Vorgabe umsetzen würde: Ricardo Moniz, 50, einen noch immer drahtigen Holländer, der zwar die Liga kaum kennt, aber in Salzburg das Double aus Meisterschaft und Pokal gewann.

Täglich zelebriert Moniz seither die Riesenshow in München, die Spieler schuften und ackern wie niemals zuvor in ihrer Karriere, der Trainer schreit Anweisungen zu ihnen herunter, wenn sie gerade keine Steigerungsläufe abhalten, liegen sie ja auf dem Boden und krümmen sich bei Situps. 60 Prozent Ballbesitz fordert Moniz ein, selbst auswärts, selbst am Betzenberg. Und laufen sollen seine Spieler, oh ja, er werde nur eines versprechen, sagte der Trainer bei seiner Vorstellung: "Wir werden die fitteste Mannschaft der zweiten Liga haben." Und dann kamen die Spanier.

Für solch kühne Offensivpläne war der alte Kader nicht zu gebrauchen, da waren sich Moniz und Poschner offenbar einig. Sieben neue Spieler holten sie bislang, darunter fürs Mittelfeld Ilie Sánchez (der zum Saison-Auftakt allerdings wegen einer Muskelverhärtung ausfallen könnte) und Edu Bedia, zwei wahrhaftige Kurzpassspezialisten aus der zweiten Mannschaft des FC Barcelona. Die Fans verneigten sich hingebungsvoll, seit der Verpflichtung von Thomas Häßler im Sommer 1999 war an der Grünwalder Straße kein Spieler so herzlich empfangen. Nur wie Poschner diese fast ablösefreien Transfers in die Wundertüte tütete, das ist eines der wenigen Geheimnisse bei Sechzig.

Moniz aber, leicht geschockt von den gar nicht so schlechten Vorstellungen in der Vorbereitung, er bemängelte zuletzt die Torgefahr seines jungen Mittelfelds mit Julian Weigl, 18, sowie Edu, 25, und Ilie, 23. Neben Benjamin Lauth und Yuya Osako hatte ja dummerweise in Moritz Stoppelkamp auch der torgefährlichste Mittelfeldmann den Klub verlassen. "Wo sind die Leute im Mittelfeld, die Tore machen", fragte sich Moniz, "wo sind sie?"

Und dann erst die Offensive. Dort gibt es noch weniger Leute, die Tore machen, im Zentralsturm eigentlich nur der ebenfalls neue Rubin Okotie, 27, einst ein hoch gehandeltes Talent, das immerhin zuletzt in Dänemark bei Sönderjysk Elitesport elfmal traf in 15 Spielen. Bei Sechzig in mannigfaltigen Tests aber nur: einmal. Also soll noch ein neuer Stürmer kommen, "sonst spielt halt der junge Wolf. Aber mit Wittek, Weigl und Wolf, dann brauchen wir noch ein Jahr Zeit", sagt Trainer Moniz. Der junge Wolf heißt Marius, er ist 19. Maximilian Wittek ist erst 18.

Man könnte es als Paradoxon erachten, dass noch Spieler fehlen, obwohl sieben neue kamen. Aber beim TSV 1860 München ist so etwas möglich. Auch wurde hier nicht schlicht eine Wundertüte befüllt. Hier läuft der Versuch, aufzuerstehen aus selbstgeschaffenen Ruinen. Ob er gelingt, kann niemand seriös prognostizieren. Selbst der Aufstiegsrekordhalter Friedhelm Funkel nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2074948
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.08.2014
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.