Süddeutsche Zeitung

Staatsdoping in Russland:Sofort rausschmeißen? Sorry, nein

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Der Olympia-Ausschluss bis 2024 sowie der Entzug der Spiele der Fußball-EM würden Russlands Sport und Präsident Putin hart treffen - doch dazu wird es kaum kommen.

Kommentar von Thomas Kistner

Gewiss, die Sanktionen gegen Russland, die nun ein Expertenteam der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada empfiehlt, reichen weiter als andere zuvor. Aber das wurde ja erwartet, im rechtsstaatlichen Teil der Welt. Moskaus Sportregenten haben, trotz der peinlichen Aufdeckung ihres staatlich organisierten Betrugs, einfach munter weiter gemacht, letzte Manipulationen datieren von Anfang 2019. Das beweist, dass der fürsorgliche Täterschutz, den vor allem das Internationale Olympische Komitee in der Affäre pflegte, als Abschreckung völlig untauglich war. Ganz im Gegenteil.

In der Theorie soll sich die Welt nun über die nächsten vier Jahre daran gewöhnen, dass russische Athleten als "neutrale" starten und das Land keine Events mehr austrägt, weder die Volleyball-WM 2022 noch die Eishockey-WM 2023. In keinem Stadion sollen Flaggen oder Wimpel flattern. Klar, das würde Putin und Co. ziemlich treffen: Wozu brauchte es so einen geheimdienstlich inszenierten Großbetrug - wenn nicht, um nationale Stärke zu zeigen? In der Praxis stellen sich diese Fragen aber noch nicht. Da stellt sich eine ganz andere: Was bleibt übrig von all den frommen Forderungen, wenn der Wada-Vorstand entschieden hat? Bei diesem Gremium ist Skepsis angebracht. Ein enormer Systemfehler hat es zur stumpfen Waffe gemacht: Die Wada wird vom IOC dominiert. Und die Ringe-Vermarkter, ein Bund aus Geld-, Land- und Hochadel, waren immer eng verbandelt mit den Potentaten der Welt; stets pflegten sie einen äußerst pragmatischen Umgang mit Sportbetrugs-Problemen aller Art. Die Wada, offiziell unabhängig, ist von den Tentakeln dieses IOC durchdrungen. Offiziell hat sie zwar das Sagen - aber wie das funktioniert, hat das IOC nur Stunden nach den harschen Empfehlungen demonstriert. Da teilte es seine Weltsicht mit und betonte sogleich Dinge, die gar nicht explizit eruiert wurden, aber halt die Richtung vorgeben: Russlands NOK, also den engsten Funktionärskameraden, sei kein Fehlverhalten attestiert worden. So läuft das im Olymp. Da fliegt in einer lupenreinen Autokratie der größte Staatsschwindel der jüngeren Sporthistorie auf, aber die olympischen Sachwalter: Die haben exklusiv nichts mitgekriegt. Das offenbart eine so grandiose Unfähigkeit, dass man sie alle sofort rausschmei- ..., sorry, halt: brüderlich umarmen muss!

Dazu passt, wie es das IOC begrüßt, dass russische Athleten an Wettkämpfen teilnehmen können, wenn sie zeigen, dass sie nichts mit dem Fehlverhalten zu tun haben - na bitte. Hier haben die Wada-Prüfer gleich selbst das Türchen adventlich weit aufgestoßen, mit ihrem konsequent wolkigen Gefasel rund um die Kernfrage, wer denn nun wirklich auszuschließen sei: Offenbar nur überführte Sünder. Wer das ist, regelt erstens der Sport, zweitens betrifft es sowieso viele Athleten, die nicht mehr aktiv sind. Den Rest regeln dann die Sportausrüster und -veranstalter; etwa über Insignien, die glasklare Rückschlüsse zur Herkunft dieser neutralen Sport-Armada zulassen.

Perfekt gewählt ist auch der Zeitpunkt für den Beschluss im Dezember. Noch bis Jahresende heißt der Wada-Boss ja Craig Reedie, der Brite sitzt auch: im IOC. Aber klar, der Mann ist völlig unabhängig. Das Schlimmste kommt also noch. Für Russland wohl eher nicht, sehr wahrscheinlich aber für den Weltsport.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2019
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