Süddeutsche Zeitung

Olympia:Sigurdsson ist der Bauingenieur der "Bad Boys"

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Der Aufstieg der deutschen Handballer hat viel mit Trainer Sigurdsson zu tun: Dass nach dem EM-Titel nun eine Olympia-Medaille möglich ist, liegt an besonderen Qualitäten des Isländers.

Von Maik Rosner, Rio de Janeiro

Der Schauplatz könnte nicht besser gewählt sein: Arena do Futuro heißt das Gebäude am südlichen Ende des Olympiaparks in Rio de Janeiro. Dass die Halle, in der das Handballturnier ausgetragen wird, mit ihrer holzstrebenartigen Hülle einen unfertigen Eindruck erweckt, passt ebenfalls hervorragend. Denn diese temporär angelegte Zukunftsarena, deren Material nach den Spielen für die Errichtung von vier Schulen verwendet werden soll, fügt sich gut ins Bild jener Sätze, die Bundestrainer Dagur Sigurdsson über seine Auswahl formuliert hat.

Der Isländer sagt vor dem Halbfinale gegen Frankreich an diesem Freitag (20.30 Uhr MESZ): "Man kann die Entwicklung nicht als Strich zeichnen. Aber die Mannschaft wird dichter und stärker und lernt immer mehr dazu. Irgendwann kommen dann die Möglichkeiten, etwas zu gewinnen. Ob jetzt oder später."

Es ist mit der deutschen Nationalmannschaft gerade tatsächlich ein bisschen wie mit der Arena, in der sie bei Olympia spielt. Sie ist ein temporäres Gebilde, das stetig von Sigurdsson, 43, geformt wird, als Architekt und Bauingenieur zugleich. An diesem Freitag vor zwei Jahren und einer Woche hatte er das Amt des Bundestrainers übernommen. Zunächst ging es darum, für die Nationalmannschaft überhaupt ein neues Fundament zu errichten. Gefolgt von einem Gerüst, das auf Dauer wetterfest, aber auch flexibel genug ist, um die stetigen Veränderungen zu tragen.

Nicht nur an der Weltspitze dran, sondern mittendrin

Im Januar, rund eineinhalb Jahre nach Sigurdssons Dienstantritt, wurde die deutsche Auswahl Europameister. Danach begannen erneute Umbauarbeiten. Von den 14 Spielern im ursprünglichen Olympia-Kader waren nur neun bei der EM dabei. Inzwischen sind im laufenden Turnier zwei Europameister zurückgekehrt. Steffen Weinhold (Kiel) und Steffen Fäth (Berlin) rückten für die verletzten Patrick Groetzki (Rhein Neckar Löwen) und Christian Dissinger (Kiel) in den Kader. Eine Entwicklung wie ein aufsteigender Strich kann allein schon aus personellen Gründen niemand erwarten, findet Sigurdsson. Aber es erfüllt ihn mit Stolz, "dass wir eine Bestätigung gegeben haben nach der EM. Wir haben über zwei Jahre stabil gespielt."

Fünf ihrer sechs Auftritte hat die Mannschaft bei Olympia gewonnen, sie zog als Gruppensieger ins Viertelfinale ein und hat dort Katars Legionäre am Mittwoch beim 34:22 ziemlich zerrupft, was Bob Hanning als Bestätigung wertet: "Der Umbruch hat funktioniert", sagt der Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Handball-Bundes. Und er findet, ein positives Zwischenfazit dürfe in jedem Fall gezogen werden, unabhängig von der kniffligen Kraftprobe mit Topfavorit Frankreich, der den dritten Olympiasieg in Serie anstrebt: "Jetzt kann man wirklich sagen: Wir sind nicht nur an der Weltspitze dran, wir sind jetzt mittendrin. Unabhängig davon, dass jetzt die stärkste Mannschaft der Welt auf uns zukommt." Anschließend zählte Hanning fünf Gründe für den Aufschwung auf: "Dagur, Dagur, Dagur, Dagur, Dagur."

Natürlich lobt sich Hanning damit auch ein bisschen selbst. Hatte er doch damals den Isländer aus seiner Funktion als Trainer der Füchse Berlin frei gestellt -, was ihm nicht leicht fiel, denn Hanning ist in Personalunion auch der Chef der Hauptstadt-Handballer. Die Berliner haben überhaupt großen Anteil am Viertelfinal-Vorstoß, sind doch Paul Drux (21, linker Rückraum) und Fabian Wiede (22, rechter Rückraum) trotz ihrer Jugend zu nervenstarken Stützen des Aufstiegs geworden.

Zur Erinnerung: Weltmeister waren die Deutschen zwar 2007, aber schon bei Olympia 2008 in Peking scheiterten sie in der Vorrunde; für London 2012 waren sie nicht einmal qualifiziert. Die letzten Olympia-Medaillen gab es 1984 in Los Angeles und 2004 in Athen (jeweils Silber); 1980 in Moskau hatte die DDR-Auswahl gesiegt.

Schwanken zwischen Respekt und Selbstvertrauen

Beim DHB sind sie froh, ihre positive Zwischenbilanz unwidersprochen ziehen zu können. Bereits jetzt ist ihr souveräner Einzug ins Halbfinale als Erfolg einzustufen, in dem sich auch die Viertelfinal-Sieger Dänemark (klares 37:30 gegen Slowenien) sowie Polen (unerwartetes 30:27 gegen Kroatien) eingefunden haben. Die einzige Turnier-Niederlage gab es gegen Brasilien, das im Viertelfinale gegen die vom mehrmaligen Welthandballer Nikolai Karabatic gelenkten Franzosen chancenlos war.

Die Einschätzungen der Spieler vor dem Kräftemessen mit den Franzosen schwanken zwischen Respekt und Selbstvertrauen. "Eine sehr schwierige Aufgabe und eine sehr hohe Hürde", erkennt Torwart Andreas Wolff. Fabian Wiede hingegen erinnert an die EM, als man die favorisierten Spanier im Finale mit 24:17 "platt gemacht" habe. Ob Deutschland nach dem Sieg gegen Katar gar Favorit gegen Frankreich sei? "Favorit würde ich nicht sagen, aber schon sehr ebenbürtig", sagt Wiede.

Wie Sigurdsson das sieht, hat er nicht näher erörtert. Aber sein Verweis auf "die Möglichkeiten, etwas zu gewinnen. Ob jetzt oder später", spricht dafür, dass er gegen Frankreich eine Reifeprüfung mit guter Langzeit-Perspektive erkennt. Auch im Fall der Niederlage.

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SZ vom 19.08.2016
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