Süddeutsche Zeitung

Schwimmen bei Olympia:Die Olympiasiegerin mit dem Kontrabass

Lesezeit: 3 min

Die 17-jährige Lydia Jacoby ist die erste Schwimmerin aus Alaska, die es zu Olympia schafft - und gewinnt gleich sensationell Gold. Dabei hat man sie bislang eher auf Musikbühnen bewundert.

Von Claudio Catuogno, Tokio

Ihre feine Technik und das Gefühl für den nötigen Rhythmus hat die Brustschwimmerin Lydia Jacoby, 17, schon oft vor Zuschauern präsentiert. Es war ja nicht immer Pandemie. Manchmal sieht man Lydia Jacoby auf den Videos von früher vor ganz viel andächtigem Publikum: Vorne auf der Bühne steht sie mit ihren Teamkollegen, die man in diesem Fall wohl Bandmitglieder nennen muss, zupft den Kontrabass - und manchmal singt sie sogar. Eine Aufnahme, wie ihre Snow River String Band beim "Anchorage Folk Festival 2018" das Lied "Sweet Verona" aufführt, feinster Alaska-Bluegrass, war zwischen 2018 und Dienstagmorgen einige Hundert Mal bei Youtube aufgerufen worden. Am Dienstagabend dann schon mehr als 11 000 Mal. Da war Lydia Jacoby bereits Olympiasiegerin über 100 Meter Brust.

Man muss sich nicht von klein auf mit Haut und Haar dem Schwimmen verschreiben, um die größten Ziele zu erreichen - wenn das keine gute Nachricht für alle Cembalo oder Fagott spielenden Kinder dieser Welt ist, die sich auch für Sport interessieren! Man muss nicht seine ganze Jugend im Olympiastützpunkt, an der Sportschule, im C-Kader oder unter den Fittichen eines Trainergurus verbringen - man braucht als Kind noch nicht mal zwingend ein 50-Meter-Becken in der Nähe, um als Teenie Olympiasiegerin im 50-Meter-Becken zu werden. Man kann immer die Erste sein, wenn man offenbar nur daran glaubt.

Lydia Jacoby hat jenes Gold gewonnen, das Lilly King fest eingeplant hatte

Dienstagmittag Ortszeit in Tokio, Lydia Jacoby hat ihre langen roten Haare zu einem Knoten gebunden und schaut unter ihrer Corona-Maske erstaunten Sportreportern aus der ganzen Welt entgegen. Rechts neben ihr, am Rande des Podiums, sitzt Lilly King, 24, die Weltrekordhalterin, die Olympiasiegerin von Rio 2016, die diesmal Bronze gewonnen hat. Nur Bronze, wie man sagen muss, wenn man die Medaillenfarbe mit ihren Erwartungen abgleicht. Links draußen: die Südafrikanerin Tatjana Schoenmaker, 24, Silber. Und in der Mitte: Lydia Jacoby, aufgewachsen im Küstenstädtchen Seward in Alaska, angetreten für den lokalen Seward Tsunami Swim Club. Sie hatte jenes Gold gewonnen, das von King fest eingeplant war.

Gerade noch in Alaska am Kontrabass, jetzt auf der größten Sportbühne des Planeten: "Dass ich aus einem so kleinen Klub komme und aus einem Staat mit so wenigen Einwohnern", sagte Jacoby, "das zeigt allen, dass du es schaffen kannst, egal, wo du herkommst."

Vielleicht taugt aber diese Geschichte der ersten Schwimmerin aus Alaska, die sich jemals für Olympia qualifizierte und die dann sofort Gold gewann, doch nicht für verallgemeinernde Botschaften. Übrigens auch nicht als Mutmacher an Schülerbands, denn die Snow River String Band gibt es nicht mehr, das Erwachsenwerden hat die fünf jungen Musiker in alle Richtungen verstreut. Eher ist die Olympiasiegerin Lydia Jacoby eine dieser ins Kuriose lappenden Sensationen, für die nur Olympia die passende Bühne bietet.

Sogar Lilly King hat gelacht. Wenn auch manchmal ein bisschen zu laut, als dass man ihr wirklich glauben wollte, wie "happy für Lydia" sie sei. "Ich liebe es zu sehen", sagte King, "wie die Zukunft des amerikanischen Brustschwimmens auf diese Weise um die Ecke biegt - und dass ich jetzt jemanden habe, mit dem ich mir Kopf-an-Kopf-Rennen liefern kann, wenn wir wieder zu Hause sind!" Ja, schon. Andererseits geht es bei amerikanischen Schwimmern erklärtermaßen immer auch darum, Geschichte zu schreiben, making history. Bis zu den Vorläufen in Tokio hatte Lilly King über die 100 Meter Brust fünf Jahre lang kein Rennen verloren. Damals war Lydia Jacoby zwölf, schwärmte daheim in Alaska von Lilly King, hatte schon die ersten Altersklassenrekorde gebrochen - aber wenn sie auf Schwimmwettkämpfen im Rampenlicht stand, dann, weil sie die Nationalhymne singen durfte.

Hinzu kommt: Lilly King ist nicht irgendeine der immer neuen US-Schwimmerinnen und -Schwimmer, die bei Olympia beständig die Podien erobern. 2016 in Rio exponierte sie sich mit ihrer scharfen Kritik an der Russin Julija Jefimowa, die trotz mehrerer Dopingvergehen starten durfte. Es hieß, King habe die Russin sogar mit Wasser bespritzt - ein richtiger Eklat, auch wenn King jede Absicht bestritt. "Heute keine internationalen Vorfälle", sagte sie laut New York Times, als sie am Dienstag an den US-Reportern vorbeilief - nur gute Schwingungen, trotz der verpassten Chance. Lilly King wusste ja, dass sie Jacobys Sensation selbst mit verschuldet hatte: Ihre 1:05,54 Minuten im Finale waren zu weit weg vom eigenen Weltrekord (1:04,13); Jacoby reichten 1:04,95 Minuten zum Überraschungsgold. Das wäre wohl auch nicht möglich gewesen, hätten die Tokio-Spiele wie ursprünglich geplant im vergangenen Sommer stattgefunden.

Jacobys Bestzeit vor der Pandemie: 1:08,12 Minuten. Als die Corona-Krise im Frühjahr 2020 auch über Alaska hereinbrach, machte das Schwimmbad in Seward zu, also mietete Jacobys Mutter - Bootskapitän und wie der Vater viel in den Naturreservaten vor Seward unterwegs - ein Apartment in der Großstadt Anchorage. Tochter Lydia schloss sich dem örtlichen Schwimmklub an und trainierte erstmals das ganze Jahr durch. In Anchorage steht auch das einzige 50-Meter-Becken in ganz Alaska, ganzjährig geöffnet. Auch das war bisher keine Selbstverständlichkeit für Lydia Jacoby.

Für den Schwimmsport ist die junge Frau aus Alaska jetzt ein Versprechen, aber bei Lilly King kann sie erfragen, wie viel Arbeit es ist, Erfolg zu verstetigen. In Alaska muss sie jetzt noch die Schule fertig machen, dann wird sie sich in Austin, Texas einem ambitionierten College-Team anschließen. Und wenn es nicht klappen sollte mit dem Geschichteschreiben: Lydia Jacoby spielt auch sehr gut Gitarre.

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