Süddeutsche Zeitung

Olympia:Boykottieren, ein bisschen

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Warum die Europäer zögern, den USA zu folgen und die Olympischen Spiele in Peking diplomatisch zu ächten - und warum das vielleicht sogar sinnvoll ist.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Olympische Spiele in Peking sind wahrlich kein Ruhmesblatt für die Welt des Sports, aber es hätte, zynisch gesprochen, noch bedeutend schlimmer kommen können: Olympische Spiele in Kasachstan. Man hat es fast schon vergessen, aber tatsächlich fehlten nur eine Handvoll Stimmen, und das IOC hätte die Winterspiele 2022 in die ehemalige Sowjetrepublik am Kaspischen Meer vergeben. Das wäre nun das vollständige Fiasko, vier Wochen vor der Eröffnung: bürgerkriegsähnliche Zustände, Schießbefehl gegen Demonstranten, und Putin schickt Truppen ins Land.

Man mag argumentieren, mit der Aussicht auf bevorstehende Olympische Spiele, unter Beobachtung der ganzen Welt, gäbe es diese Eskalation der Gewalt nicht. Kurzfristig mag das sogar stimmen, aber auf lange Sicht glauben nur Romantiker daran, dass die Ausrichtung Olympischer Spiele ein Land auf einen friedlichen, demokratischen Pfad führt. China ist dafür das beste Beispiel.

Die Sommerspiele 2008 galten als das "Coming-out" der neuen Supermacht China. Damals hofften viele in Europa, mit der immer engeren wirtschaftlichen Verflechtung werde das Land zum verlässlichen Partner. Doch seither tritt das Regime immer aggressiver auf, nach innen und nach außen. Nun also Peking reloaded, und es stellen sich die gleichen Fragen wie damals. Dürfen Athleten der westlichen Welt teilnehmen? Dürfen westliche Politikerinnen und Politiker dort auf der Tribüne sitzen?

Die westliche Politik ist in der Rolle als moralischer Reparaturbetrieb überfordert. Die EU hat noch nicht einmal eine Sprachregelung gefunden

Es spricht für die Strahlkraft des Sports, speziell Olympischer Spiele, dass damit immer noch die Sehnsucht nach einer besseren Welt verknüpft ist. Aber natürlich sind Athletinnen und Athleten ebenso wie ihre Funktionäre doch nur ein Produkt der Welt, die sie hervorbringt. Korruption, Betrug, Gigantonomie, das Machtstreben autokratischer Regime: All das spiegelt sich in Olympischen Spielen in Peking. Und die westliche Politik ist in der Rolle als moralischer Reparaturbetrieb überfordert.

Olympische Spiele komplett zu boykottieren, erwägt seit dem westlichen Boykott 1980 in Moskau niemand mehr ernsthaft. Die UdSSR zog ihre Truppen nicht aus Afghanistan ab, Sportler wurden um einen Höhepunkt ihrer Karriere gebracht, und der Ostblock boykottierte die folgenden Spiele in Los Angeles. Die moralische Münze der Politik ist seither kleiner geworden, man debattiert über einen diplomatischen Boykott.

Die USA, Großbritannien, Australien, Kanada, Neuseeland haben einen solchen Boykott verkündet, um ein Zeichen zu setzen gegen Chinas Menschenrechtsverbrechen gegen die Minderheit der Uiguren, gegen die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong, gegen den Umgang des Regimes mit der Tennisspielerin Peng Shuai, die einen hochrangigen Parteifunktionär des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte und danach wochenlang verschwand. Die 27 Staaten der Europäischen Union können sich nicht einmal dazu durchringen. Sie suchen weiterhin nach einer gemeinsamen Lösung, wie die offizielle Sprachregelung lautet.

Es bleiben noch ein paar Wochen Zeit, aber es wäre eine große Überraschung, sollten sich die 27 zu einem offiziellen diplomatischen Boykott entschließen. Es werden wohl Minister aus der zweiten Reihe reisen, ansonsten wird man hoffen, dass sich das Problem schon wegen der Pandemie-Reisebeschränkungen irgendwie erledigt, ohne großes Aufsehen zu erregen. Man kann das feige nennen, oder auch pragmatisch.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat einen merkwürdigen Privatboykott verkündet - sie werde nicht anreisen, aber die Spiele fielen ohnehin nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Innenministerin Nancy Faeser, für den Spitzensport zuständig, hat erklärt, "schon aus Pandemiegründen" nicht nach Peking zu reisen. Das sind Zeichen von Orientierungslosigkeit, die deutsche Regierung muss sich außenpolitisch erst noch sortieren. Baerbock hat erkennen lassen, dass Deutschland im Umgang mit autokratischen Regimen mehr Haltung und weniger Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen zeigen soll als unter Kanzlerin Angela Merkel. Von deren Nachfolger Olaf Scholz heißt es, dass er die China-Politik Merkels fortsetzen will. Das heißt aber nicht, dass er dafür nach Peking reisen müsste.

Ausgerechnet Angela Merkel blieb 2008 der Eröffnungsfeier fern. Sie musste dafür im In- und Ausland heftige Kritik einstecken. US-Präsident George W. Bush sprach von einer "Missachtung des chinesischen Volkes". Bush saß, obwohl das Regime zuvor die Freiheitsbewegung in Tibet brutal niederschlagen hatte lassen, bei der Eröffnungsfeier auf der Tribüne, genau wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und Altbundeskanzler Gerhard Schröder.

Vor einigen Wochen wurde Kanzlerin Merkel vom chinesischen Staatschef Xi Jinping blumig als "alte Freundin" verabschiedet, was zeigt: Boykott oder nicht Boykott, für die langen Linien der Politik sind solche olympischen Aufregungen unerheblich, wenn sie nicht Teil einer politischen Strategie sind.

Wer politische Strategien sucht, wird derzeit nicht in Berlin fündig, sondern in Paris, bei Emmanuel Macron. Der französische Präsident bestimmt die Agenda der EU seit Monaten und hat zum 1. Januar zudem die Ratspräsidentschaft übernommen "Ganz klein und nur symbolisch" wäre ein diplomatischer Boykott, hat Macron Anfang Dezember erklärt, nachdem US-Präsident Joe Biden seinerseits den Boykott verkündet hatte. Angesichts der Vorwürfe gegen China - Völkermord an den Uiguren - hält er Bidens Vorgehen für eine hohle Geste. Aus Macrons Sicht gäbe es derzeit absolut nichts zu gewinnen in einer wirklich großen Fehde mit China. Deshalb spricht er sich dagegen aus, diese Spiele zu "politisieren".

Es ist nicht China, sondern Russland, das die EU und ganz Europa derzeit durch den Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine existenziell bedroht. Deshalb wäre es wohl aus europäischer Sicht nicht einmal besonders klug, Putin das diplomatische Feld in Peking zu überlassen. Der russische Präsident wird selbstverständlich an der Eröffnungsfeier teilnehmen, wie es im Übrigen auch der UN-Generalsekretär Antonio Guterres angekündigt hat.

Zudem dürfte es Macron zutiefst widerstreben, in der Frage eines Olympia-Boykotts auf einen Zug aufzuspringen, der von den Angelsachsen gesteuert wird. Der Widerwillen hat ein Kürzel: AUKUS. Es hat Macron zutiefst gekränkt, wie die USA mit Großbritannien und Australien an Frankreich vorbei vergangenes Jahr ihren Deal zum gemeinsamen Bau von U-Booten schmiedeten, um Chinas Einfluss im Südpazifik einzudämmen. Wenn Macron "europäische Souveränität" predigt, meint er zunächst einmal: Die Europäer dürften nicht mehr am Rockzipfel der USA hängen.

Im Umgang mit China will die EU nicht der "amerikanischen Obsession" bedingungsloser Rivalität folgen, wie es in Brüssel heißt, sondern einen eigenen Weg gehen. China gilt als "Partner, Wettbewerber und Systemrivale". Wegen der Unterdrückung der Uiguren hat die EU Strafmaßnahmen gegen die Parteiverantwortlichen in der Provinz Xinjiang verhängt. China revanchierte sich mit Sanktionen gegen EU-Vertreter, die EU wiederum legte das bereits ausverhandelte Investitionsabkommen mit China auf Eis. Außenministerin Baerbock hat zuletzt ein europäisches Importverbot für Produkte aus der Region Xinjiang ins Spiel gebracht. Das wäre möglicherweise der Auftakt für einen Handelskrieg mit China, eine derartige "wertegeleitete Außenpolitik" hätte einen hohen Preis. Es stünde nicht nur das Geschäft einiger Konzerne auf dem Spiel, sondern deutscher, europäischer Wohlstand. Schwer vorstellbar, dass es dafür derzeit eine Mehrheit in der EU gibt.

Jede der 27 Regierungen hat ihre ganz eigene Agenda im Umgang mit China und den Winterspielen. Dazu gehört, dass die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris stattfinden, und die Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d'Ampezzo. Niemand will einen Gegenboykott provozieren. Vom italienischen Außenminister Luigi di Maio wird berichtet, er habe beim G-7-Treffen in Liverpool geklagt, seine Regierung müsse schon deshalb in Peking vertreten sein, weil man "die gottverdammte olympische Fackel" von den Chinesen übernehmen müsse. Zur Wahrheit dieser Winterspiele gehört auch, dass sie sehr wohl auch in Deutschland statt in Peking hätten stattfinden können. Die Münchner Bewerbung scheiterte jedoch schon in Bürgerbefragungen.

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