Süddeutsche Zeitung

Fahnenträgerin Claudia Pechstein:Flaggenfrau gegen widrige Umstände

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Albertville, Lillehammer, Nagano, Salt Lake City, Turin, Sotschi, Pyeongchang und Peking - keine andere Athletin hat all diese Winterspiele erlebt. Nun trägt Claudia Pechstein, 49, in Peking die deutsche Fahne.

Von Barbara Klimke, Peking

Von den Tagen in Salt Lake City ist mehr geblieben als eine Perücke. Das Echthaar-Unikat, stufig geschnitten und in den Blockfarben Schwarz, Rot und Gold getönt, stülpte sich Claudia Pechstein damals nach ihrem Sieg über 5000 Meter über die Ohren. "Wischmopp" nannten spöttische Blätter die Ersatzfrisur despektierlich, was nichts daran änderte, dass die Perücke als Exponat von Rang anschließend nach Bonn ins Haus der Geschichte kam. Die Winterspiele von Salt Lake City? Liegen nun auch schon wieder zwanzig Jahre zurück. Claudia Pechstein kreiselt unterdessen auf scharfen Kufen immer noch ums Oval.

Es ist eine Karriere, die nur in Dekaden vermessen werden kann. Vor drei Jahrzehnten, 1992 in Albertville, trat die Eisschnellläuferin erstmals bei Olympia an. Nun, bei ihren achten Spielen, wird ihr Erscheinen erneut von den Farben Schwarz, Rot und Gold umweht, weil Pechstein, 49 Jahre alt, beim Team-Einmarsch anlässlich der Eröffnungsfeier im Nationalstadion von Peking an diesem Freitag die deutsche Fahne trägt - gemeinsam mit Francesco Friedrich, 31, aus Pirna, dem Bobpiloten.

Pechstein geht der Ruf voraus, sich niemals geschlagen zu geben, nicht vom Alter, nicht von einer Sperre und schon gar nicht von ihren Verbandskolleginnen. Sich gegen widrige Umstände zu stemmen, ist vielmehr eine der Triebfedern ihrer Laufbahn. Auch das erklärt, warum sie die nationalen Ausscheidungsrennen hierzulande kurz vor Beginn ihres sechsten Lebensjahrzehnts - am 22. Februar wird sie fünfzig Jahre alt - noch gewinnen kann. Und so war es offenbar auch eine kleine Genugtuung für die ewige Wettkämpferin, dass sie bei der Sympathiewahl zur Flaggenfrau, für die das deutsche Olympiateam und die Öffentlichkeit zu gleichen Teilen abstimmungsberechtigt waren, ein paar Konkurrentinnen hinter sich ließ.

Es freue sie umso mehr, "hierbei einen kleinen Sieg geholt" zu haben, teilte sie mit, als die Online-Voten für sie (37,43 Prozent), für die Snowboarderin Ramona Hofmeister (34,52) und die Rodlerin Natalie Geisenberger (28,06) ausgezählt waren. In der ersten Begeisterung ging sie sogar so weit, diese Auszeichnung durch andere über eigene Meriten zu stellen: Mit der Fahne in der Hand vorwegzumarschieren, "das ist für mich mehr wert als alle meine olympischen Medaillen", erklärte sie.

Allerdings war es Pechstein selbst, die in einem Nebensatz erwähnte, dass es sich bei ihr um die deutsche Rekordolympionikin handelt. Tatsächlich haben sie und Friedrich gemeinsam einen ansehnlichen Goldschatz von insgesamt sieben Siegerplaketten zusammengetragen. Friedrich gewann 2018 im olympischen Eiskanal von Pyeongchang im Zweier- und Viererbob. Zudem hat er mehr Weltmeistertitel und Weltcupsiege angesteuert als jeder andere Pilot. Dass er sich bei der Abstimmung gegen Eishockey-Nationalmannschaftskapitän Moritz Müller und Rennrodler Tobias Wendl durchsetzte, empfand er "wie einen Ritterschlag in England".

2018 in Südkorea ging die fünfmalige Olympiasiegerin Pechstein bei vier Rennen leer aus, wie schon 2014 in Sotschi. Ihre Stellung innerhalb der Deutschen Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft ist dennoch zementiert; zum einen, weil sie sportlich seit Langem keine Herausforderin fürchten muss; zum anderen, weil ihr Lebensgefährte Matthias Große, der vor vier Jahren noch in der Rolle ihres persönlichen Mentaltrainers zu den Spielen reiste, nun als Verbandspräsident amtiert.

Und als das Perpetuum mobile im Eisschnelllauf-Oval ist sie ohnehin einzigartig. Keine andere Frau hat die Winterspiele von Albertville, Lillehammer, Nagano, Salt Lake City, Turin, Sotschi, Pyeongchang und Peking als aktive Athletin erlebt. Am Samstag steht ihr erster Wettkampf, das Rennen über 3000 Meter, auf dem Programm. Am Abend zuvor wird sie die Fahne tragen - ein seltener Anblick, in jeder Beziehung. Denn beim Einmarsch der Nationen ist sie überhaupt erst einmal mitgelaufen, wie sie erzählte: 1992 bei ihrem Debüt in Albertville. Vor dreißig Jahren.

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