Süddeutsche Zeitung

Olympia 2022:Après-Xi

Lesezeit: 4 min

Olympische Schneewehen, garantiert unpolitische Propaganda, lächelnde Rachenputzer und schwebendes Essen: letzte Anmerkungen zu den Pandemiespielen in Peking.

Von Saskia Aleythe und Barbara Klimke, Peking

Der Mensch gewöhnt sich bekanntlich an alles, aber manchmal dauert es etwas länger. Beispielsweise, wenn er 14 Tage lang in die absurde Welt der Pandemiespiele von Staatschef Xi Jinping in China eintauchen muss. Eindrücke der SZ-Reporterinnen, die sie höchstwahrscheinlich anderswo nie wieder sammeln werden.

Panda per Post

In den ersten Tagen standen etwa 20 Leute vor dem Souvenirshop im ersten Stock des Medienzentrums der Peking-Spiele. Bing Dwen Dwen war ausverkauft. Ein paar Tage später waren es rund 50 Wartende. Bing Dwen Dwen war immer noch ausverkauft. In der zweiten Woche zog sich die Schlange von morgens bis spät in die Nacht einmal durch die Riesenhalle, mehr als 100 Meter lang. Manche hatten Schemel mitgebracht, um die Stunden zu überbrücken. Bing Dwen Dwen lag noch immer nicht in den Regalen, spätestens jetzt war allerdings klar, dass es gar nicht um das Plüschmaskottchen mit den Pandakulleraugen ging. Die Kunden kauften, wenn sie endlich an die Reihe kamen, alles auf, was zu haben war: Handschuhe, Taschen, Schlüsselanhänger, Pins, Rucksäcke, sogar irdene Teekännchen, wenn darauf das Spiele-Emblem zu sehen war. Dann nahmen sie ihre schweren Taschen und stellten sich an der nächsten langen Schlage an: am Postschalter gegenüber.

In der gesamten großflächig abgeriegelten Olympia-Enklave gebe es nur diese eine Poststelle, erzählte eine chinesische Journalistin, die zwei große Pakete aufgeben wollte. So wie auch nur dieser eine Olympia-Souvenirladen für Zehntausende von Menschen vorhanden war, die während der Spiele in der Blase arbeiteten: Fernsehtechniker, Reporter, Busfahrer, Köche und Hundertschaften freiwilliger Helfer. Die meisten, sagte die chinesische Journalistin, wollten Andenken und kleine Geschenke nach Hause schicken, solange die Spiele noch liefen. Sie wies auf meterhohe Stapel mit Faltkartons, die gerade angeliefert wurden. Ihre eigenen Pakete waren an die Familie in Shanghai adressiert. Warum sie die nicht einfach im Zug mitnahm nach der Schlussfeier? Sie lächelte. Wir bleiben noch. Drei Wochen, sagte sie: Quarantäne.

Mörtel im Hals

Der Mensch gewöhnt sich an alles, noch schneller, wenn er es muss. Da war die Morgenroutine bei den Corona-Spielen: Aufstehen, Rachenabstrich, Frühstück. Man könnte das jetzt gefühlt auch immer so weitermachen: Aufstehen, Rachenabstrich, Frühstück. Wobei, die Fertigkeiten der Stäbchenstecker und -dreher waren fürs Gemüt entscheidend. Es gab unterschiedliche Facetten: Da waren die Gaumenstreichler, die so zaghaft tupften, dass man selber gerne noch mal gründlich nachgearbeitet hätte, damit das Resultat nicht wegen zu wenig Material uneindeutig ausfällt. Und dann gab es jene, die im früheren Leben als Mörtelrührer gearbeitet haben müssen, das lässt sich auch erstaunlich gut zwischen Zäpfchen und Mandeln ausleben.

Bleibende Erinnerungen gehören denen, die Ähnliches in der Nase erlebten, zum Beispiel kurz vorm Abflug: Da saß man nun, hatte ausdauerndes Rüsselgebohre überlebt, dann ein paar Worte der im Schutzanzug versteckten Frau. Und man stellte die Frage, vor deren Antwort man sich selbst am meisten fürchtete: Das andere Nasenloch auch noch? Ein Nicken auf der einen Seite, ein Fluchen auf der anderen, dann auf beiden Gelächter. Eine finale Runde mit dem Tupfer, die Tränen laufen herunter. Aber: Zum Abschied gibt's ein fröhliches Winken.

Erbauliche Nachtlektüre

Viel Zeit bleibt nicht zum Lesen, wenn spätabends noch Schlitten durch Eiskanäle rodeln oder Eiskunstläuferinnen Pirouetten drehen. Trotzdem war in der hintersten Ecke des Pressezentrums ein Büchertisch aufgebaut. Vor vier Jahren bei den Winterspielen in Pyeongchang hatten die Veranstalter sogar eine Bibliothek eingerichtet mit koreanischer Lyrik und Romanen, in viele Sprachen der Welt übersetzt. Auf dem Tisch in Peking: ein Bericht über den Handel entlang der Seidenstraße. Daneben Schriften auf Deutsch, gleich stapelweise: "Entwicklung der Kommunistischen Partei Chinas"; "Auszüge aus dem Bericht auf dem XIX. Parteitag"; "Die Kommunistische Partei Chinas und das großartige Wiederaufleben der chinesischen Nation in 100 Schlüsselwörtern".

Da laut Olympischer Charta, Artikel 50, politische Propaganda bei den Spielen nicht gestattet ist, wird es sich wohl um einen Beitrag zur Kulturolympiade gehandelt haben.

Eiskalter Hauch

Die Liebe zum Sport wurde bei diesen Spielen arg auf die Probe gestellt, auch bei den Athleten selbst. Outdoor-Sportarten schön und gut, aber bei Temperaturen im zweistelligen Minusbereich bekommt selbst die flammendste Leidenschaft Schüttelfrost. Für Biathlet Rene Zahkna aus Estland wurde es in der Verfolgung bei minus 14 Grad besonders schmerzhaft: Am Schießstand angekommen, konnte er durch den Diopter seiner Waffe nicht mehr durchgucken, er musste etwas unternehmen. Zahkna hielt die Verunreinigung für Schnee, er pustete - und blieb mit der Unterlippe hängen, er war tatsächlich festgefroren. Statt Schnee klebte Eis am Gewehr, das der 27-Jährige schließlich mit der Spitze seines Stocks wegkratzte. Die Lippe blutete, doch mit drei Fehlern bei 20 Schüssen gehörte er zumindest am Schießstand noch zu den Besten im Feld. Nur beim Essen musste er sich danach zurücknehmen, Senf lieber vermeiden, schrieb der 68. der Gesamtwertung bei Instagram: "Das brennt wie die Hölle." Immerhin ein kleines bisschen Wärme.

Erlebnisgastronomie

Nach zwei Wochen in Zhangjiakou fühlte man sich wie ein Kind vom Dorf. Die große weite Welt war die in Peking: Da gab es ein riesiges Pressezentrum, erzählten die Kollegen, eine "Dining Hall" mit etlichen Stationen, um sich kulinarisch zu beglücken. Die "Dining Hall" in Zhangjiakou war: der Ort, an dem man sich einen Becher Nudeln aufgoss. Auch das war spektakulär: Gerade noch hatte man ein paar Brösel aus einem Tütchen gekrümelt, aufgegossen, quellen lassen - plötzlich sprangen einem ganze Zucchinischeiben und schönste Maiskörner entgegen. Na gut, es gab doch noch viel mehr als das, auch ein Restaurant, bei dem sich mit dem Gang durch die richtige Tür entschied, was man bekam: Von vorne reinmarschiert wurde einem die Pizza-Karte in die Hand gedrückt, von hinten durfte man ans Buffet, zusammen saß man dann trotzdem. Das Essen war mehr als genießbar, aber servierten in diesem Peking nicht Roboter die Gerichte?

Also dann, am letzten Tag in der großen Stadt, Essen vom Elektro-Kellner bestellt. Begeisterung, als der Teller von der Decke herunter Richtung Tisch schwebt. Wie von einem Dorfkind. Wer lange genug recht wenig gesehen hat, der nimmt so viele Erlebnisse mit, wie er kann.

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