Süddeutsche Zeitung

Olympia in den USA:Puff, die Fernsehzuschauer sind verschwunden

Lesezeit: 5 min

Die Olympia-Einschaltquoten für den Sender NBC sind in diesem Jahr verheerend. Liegt es an der Zeitverschiebung? An China? Oder eher daran, dass der Sender Olympia wie eine Reality-TV-Show präsentiert?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es ist die reinste Magie, die sie derzeit auf dem amerikanischen TV-Kanal NBC zeigen: Wer zur besten Sendezeit einschaltet, sieht den Moderator Mike Tirico, mal in Peking, mal in Los Angeles - der Mann kann ganz offensichtlich zwischen diesen Orten hin und her gebeamt werden. Er kündigt an, was so passieren wird an diesem Abend bei den Olympischen Winterspielen, doch dann, oho, als würde ihm jemand in den Kopfhörer flüstern: schnell rüber zur Eiskunstlauf-Arena, wo das amerikanische Paar jetzt für das Kurzprogramm trainiert. Das müsse man doch unbedingt sehen.

Kurzer Blick auf die Olympia-App: War doch schon vor sechs Stunden, das Training! Okay, das Interview mit Mikaela Shiffrin nun ist live, sie ringt nach ihrem Aus im Kombi-Slalom mit den Tränen. Dazwischen: Eishockey-Finale, USA gegen Kanada, auch das live; in der Drittelpause schalten sie rüber zu Shorttrack - das aber schon 15 Stunden her ist. Und sie zeigen ein Interview mit der Snowboarderin Eileen Gu, in Kalifornien geboren und aufgewachsen, sie sollte am Donnerstag ihre zweite Goldmedaille gewinnen - das wird gleich noch wichtig. Sie sagte jedenfalls vermeintlich live: "Ich versuche hier nicht, politische Probleme zu lösen." Das Zitat ist jedoch seit Stunden im Internet verfügbar.

Ja, sie tun im analogen Live-TV tatsächlich so, als würde das, was in Peking elf Stunden dauert, in diese drei Stunden passen, inklusive Interviews mit und rührseliger Storys über die amerikanischen Helden. Man kann dieses Experiment für den größten Schwachsinn der Livesport-Geschichte halten; oder für einen ausgebufften Umgang mit der Zeitverschiebung, wenn sich die Zuschauer abends in ihre Couches knüllen und so tun, als wäre das alles live.

Der TV-Sender NBC hat 7,75 Milliarden Dollar dafür bezahlt, die Spiele in den USA zeigen zu dürfen - aber die Rechnung geht nicht mehr auf

Nun, die Amerikaner geben eine deutliche Antwort. Die Zuschauer, puff, sind auf magische Weise verschwunden; die Einschaltquoten (am Dienstagabend sahen acht Millionen zu) dürften am Ende die niedrigsten werden, seit NBC im Jahr 2014 insgesamt 7,75 Milliarden Dollar dafür bezahlt hat, die Spiele bis 2032 in den USA zeigen zu dürfen. Die Zahlen sind derart desaströs, dass selbst NBC-Sportchef Pete Bevacqua, gewöhnlich noch begabter als Politiker in der Kunst, selbst verheerenden Zahlen was Positives abzugewinnen, in dieser Woche sagte: "Da gibt es nichts zu deuteln. Das ist schwierig für uns."

Jetzt wird nach Gründen gesucht, zumal sie Historisches versprochen hatten bei NBC: Sie haben nicht nur die Rechte für Olympia, sondern in diesem Jahr auch für den Super Bowl, und 112,3 Millionen Amerikaner wollten am Sonntag den Sieg der Los Angeles Rams gegen die Cincinnati Bengals sehen. Es waren die meisten Zuschauer für irgendeine Sendung in den vergangenen zwei Jahren, damals sahen 113 Millionen das Football-Finale. NBC wollte davon auch für Olympia profitieren, deshalb flog Galionsfigur Tirico hin und her - es blieben nur 21,3 Millionen dabei. 1996 zum Beispiel wollten 52 Millionen Amerikaner die Post-Super-Bowl-Folge der Sitcom "Friends" sehen.

Sie haben bei NBC ein gewaltiges Problem, und nun überlegen die Verantwortlichen, woran das liegen könnte: Zeitverschiebung, klar, da hilft auch das "So tun, als wäre es live"-Getue nichts. Für Bevacqua ebenfalls ein Problem: leere Tribünen.

"Es fehlen diese emotionalen Momente, wenn ein Athlet seine Familie und Freunde umarmt, wenn die Zuschauer mitfiebern - diese Magie gibt es leider nicht", sagt er und verweist auf den Super Bowl, den im vergangenen Jahr (im halbleeren Stadion von Tampa Bay) nur 96,4 Millionen sahen - immer noch eine Menge, aber dennoch so wenige wie seit 2006 nicht mehr: "Die Einschaltquoten sind diesmal nach oben gegangen, und wir sind uns sicher, wenn wir an die nächsten Spiele in Paris, Italien und Los Angeles denken: Die Stadien sollen aus den Nähten platzen, wir wollen die Emotionen der Sportler ohne Masken sehen und dann mit ihren Familien gemeinsam ihre Leistungen feiern."

Was NBC vorführt, nennen sie in Hollywood Scripted Reality TV: schon echt, aber mit Dramaturgie

Als er das sagt, wird einem bewusst, was Olympia für NBC wirklich ist: kein Sportereignis, sondern Reality-TV. Sie wollen gar nicht berichten, sie wollen Geschichten erzählen. Die politische Rumwuselei von IOC-Chef Tomas Bach? Ist Thema, wird aber routiniert weggesendet. Dessen Videointerview mit der Tennisspielerin Peng Shuai? Wird gezeigt, bleibt aber weitgehend unkommentiert. Den Begriff Uyghurs hat man auch nicht oft gehört in den vergangenen zwei Wochen, so wie man den Olympiasieg der deutschen Bobfahrer zwar auf dem Streamingportal Peacock (gegen Abschluss eines Abos) sehen konnte, aber nicht im Live-TV.

Was man bei NBC vorgeführt bekommt, nennen sie in Hollywood Scripted Reality TV: Ja, es ist schon echt, was passiert, aber über die Dramaturgie der Vorführung bestimmt ein Produzent. Die Castingshow "Germany's Next Topmodel" ist ein Beispiel für Scripted Reality TV, es geht weniger um die Suche nach einem Model als vielmehr um: Drama, Baby.

Genauso läuft das mit NBC und Olympia: Es soll das Gute-Nacht-Drama für die Amerikaner sein, inklusive Triumphen und Tränen. Shiffrin wird mit ihrer Trauer über das Scheitern nicht alleingelassen, die Kamera hält voll drauf. Sieger werden gefeiert, und der Sieg wird dadurch emotional multipliziert, indem NBC zu jeder/jedem eine Backstory bereithält, gegen die rührselige Rückblenden in deutschen Castingshows daherkommen wie nüchterne Nachrichten.

Amerikanische Olympiasieger haben in ihrem Leben jedes Hindernis aus dem Weg geräumt, ihr Triumph kommt dem Erklimmen aller Achttausender gleich - und noch mehr, weil Amerikaner nie nur für sich gewinnen, sondern: für die Oma, für den erkrankten Kumpel, fürs Vaterland. Schluchz.

Fast schon kurios: Eine 18-jährige US-Chinesin soll die Welt erklären

Das führt zu Eileen Gu, die am Donnerstag beim Freestyle-Ski in der Halfpipe siegte und ihr zweites Gold bei diesen Spielen holte. Sie ist, wie erwähnt, in Kalifornien geboren und aufgewachsen, sie startet für China - ihre Mutter stammt aus Peking. "Wenn ich in Amerika bin, bin ich Amerikanerin. Wenn ich in China bin, bin ich Chinesin", sagt Gu: "Die Leute wissen manchmal nicht, was sie mit Menschen anfangen sollen, die nicht in eine Schublade passen. Sie sagen: 'Warum will die mit 18 die Welt verändern?'"

Moment mal: Molly Solomon, bei NBC zuständig für Olympia, sagte der Zeitschrift Hollywood Reporter mit Blick auf die Übertragung aus Peking, dass China eine komplizierte Beziehung mit dem Rest der Welt habe. Es ist dem Sender nicht gelungen, IOC-Chef Bach dazu zu interviewen, sie hat keine Antworten von Chinas Präsident Xi Jinping gekriegt - und beim Interview mit US-Präsident Joe Biden vergangene Woche ging es um so ziemlich alles, aber nicht um China. Dafür soll eine 18-jährige Kalifornierin jetzt aber mal was zu diesen Beziehungen sagen. Wundert sich wirklich noch jemand, dass Tennisspielerin Naomi Osaka keine Lust mehr auf Pressekonferenzen hat?

Es soll leichte Kost sein, mit der NBC die Amerikaner allabendlich füttert. Das mag in den Zeiten vor Social Media funktioniert haben, nun aber wirkt es naiv und realitätsfern. Wie eine Castingshow, bei der sie vor lauter künstlichem Drama vergessen, dass sich echte Tragödien abspielen, aber auch Triumphe - über die man berichten könnte. Ohne Drama. Ohne Magie. Sondern einfach nur zeigen, was ist.

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