Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Immer am Scheinwerfer vorbei

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Von Johannes Knuth

Der Geher Christopher Linke mag die Unsicherheit. Diese kleineren und größeren Täler seines Sports, aus denen man sich so herrlich wieder herausquälen kann. Auch wenn sich der Spaß in Grenzen hält, wenn man gerade mitten in einer dieser Fallen steckt. Wie jetzt gerade.

Linke weilt seit Anfang November in Brisbane, an der Ostküste Australiens, es ist schwül und morgens schon 25 Grad heiß, 150 Kilometer weiter nördlich wüteten zuletzt die Buschfeuer. Er hatte sich den Ort bewusst ausgesucht; in Japan, bei den Sommerspielen im kommenden Juli, wird das Klima ähnlich sein. An diesem Sonntag wollte Linke bei den Ozeanien-Meisterschaften in Melbourne auch schon mal die Olympia-Norm über 50 Kilometer unterbieten. Allerdings brannte die Sonne in Brisbane zuletzt so kräftig herunter, dass er im Training maximal 20 Kilometer schaffte, statt 30 oder 35, wie es vor dem Wettstreit nötig gewesen wäre.

Optimale Anpassung in Australien, finanziert aus eigener Tasche

In Melbourne wird er nun also nur ein "hochwertiges Training" bestreiten. "Mal gucken, wie weit ich komme", sagt Linke am Telefon, er hat diesen leichten Moll-Ton in der Stimme, der von der Enttäuschung erzählt.

Die Leichtathleten stecken Ende November in der Regel tief im Wintertraining, in kühlen Sporthallen oder Krafträumen. Christopher Linke, 31, vom SC Potsdam hat einen anderen Pfad eingeschlagen. Es ist ein Weg, der ihn zuletzt über Katar nach Brisbane führte und bald nach Japan lenken soll; es ist auch ein Weg, der ihn etwas aus der Nische hieven könnte und seinen Sport gleich mit. Auch wenn auf dem Weg noch einige Unwägbarkeiten lauern.

Die Geher sind wohl eines der am meisten unterschätzten Ressorts, nicht nur im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). Zum einen kennen selbst viele ihrer Kollegen die Disziplin gar nicht so richtig, zum anderen jagten sie zuletzt vergeblich einer internationalen Medaille hinterher, die erst das warme Licht des Publikums auf die Athleten lenkt. Linke kann einiges davon erzählen: Er hob sich über schnelle Erfolge in der Jugend in die nationale Spitze, er wurde allein fünfmal deutscher Meister über 20 Kilometer, Achter bei der WM 2013 über dieselbe Distanz, Fünfter bei Olympia 2016 und der WM 2017. Bei der WM im vergangenen Oktober, im Glutofen von Doha, begann er verhalten, holte am Ende dann alle ein - bis auf die drei Besten. "Meine beste internationale Platzierung", sagte er, "aber natürlich mache ich den Sport, um eine Medaille zu gewinnen."

Linke neidet niemandem etwas, aber er wünscht sich schon, dass nicht nur das kleine Fachpublikum erfährt, was seine Kollegen und er leisten. Er erzählt ausdauernd und mit ruhiger, fester Stimme über seinen Sport, die Vorurteile ("Ist das das mit dem Nordic Walking?"), das flotte Tempo (weniger als vier Minuten pro Kilometer), wie Ausdauer mit technischer Finesse verschmilzt: "Wir sind die einzige Disziplin, in der du verwarnt oder disqualifiziert wirst, wenn du nicht das Idealbild befolgst."

Einer der beiden Füße muss stets den Boden berühren, ein Bein gestreckt sein, das ist mit zunehmender Dauer immer anstrengender, die drohenden Sanktionen verleihen den Rennen bis zum Schluss zusätzliche Spannung. Nur kriege das kaum jemand mit, sagt Linke: Die Rennen werden selten in voller Länge übertragen. Seit acht Jahren werden sie zudem separat von den deutschen Meisterschaften ausgerichtet.

In diesem Jahr fand sich für die 50 Kilometer nicht mal ein Ausrichter. Auch deshalb startet Linke am Sonntag bei den Ozeanien-Titelkämpfen, die Reise finanzierte er aus privaten Ressourcen.

Unter diesen Bedingungen, sagt Linke, finde man "nur durch Glück und Zufall zum Gehen". Sein Glück war, dass er in Potsdam auf die Sportschule ging, an einem der wenigen Sammelpunkte dieser Disziplin in Deutschland. In der neunten Jahrgangsstufe kamen die Geher in seine Klasse, der erste, freche Gruß des damaligen Mittelstreckenläufers Linke war: "Könnt ihr nicht laufen, oder was?" Er probierte es selbst, nach 200 Metern merkte er, wie schwer es war, das Knie immer wieder voll durchzustrecken und die Zehen nach oben zu ziehen - als würde man an einem Schlagzeug ständig das Trommelpedal heruntertreten. Linke war fasziniert.

Wer einmal im System ist, hat meist Erfolg, an den Stützpunkten in Erfurt, Baden-Baden und Potsdam. "Das ist schon unsere Stärke, dass nicht jeder sein Ding macht, sondern wir als Gruppe zusammenarbeiten, die sich immer wieder fordert", sagt Linke. Er trainiert in Potsdam bei Ronald Weigel, dem Bundestrainer, der 1988 für die DDR über 20 und 50 Kilometer Olympia-Silber gewann und 1992 für das wiedervereinigte Deutschland Bronze (und später erst wegen seiner Vergangenheit als Stasi-Mitarbeiter aus der Sportfördergruppe flog, dann von der Untersuchungskommission des deutschen Sports entlastet wurde).

In Doha waren die Geher eines der verlässlichsten Ressorts einer insgesamt durchwachsenen DLV-Auswahl, Carl Dohmann wurde Siebter über 50 Kilometer, Saskia Feige Elfte über 20. Und Linke, der Vierte über 20 Kilometer, versprach, dass er sich seine erste große Medaille dann eben demnächst bei Olympia in Tokio beschaffen werde.

Eigentlich will er in zwei Disziplinen starten. Diese Möglickeit hat ihm das IOC genommen.

Sollte er sich qualifizieren, wird er allerdings nach Sapporo reisen; dorthin hatte das Internationale Olympische Komitee zuletzt die Geher- und Marathonwettbewerbe verlegt. Zum Wohle der Sportler, sagt das IOC. Heuchlerisch, sagen viele Athleten. Die Olympiamacher handelten ja erst, nachdem in Doha viele Geher und Läufer in der Mitternachtshitze zusammengeklappt waren. Linke hält es jedenfalls für "totalen Blödsinn", die Wettbewerbe "für zwei, drei Grad Unterschied" 850 Kilometer in den Norden zu zerren. "Da wird mir jede Chance genommen, den olympischen Spirit zu spüren, das ist für mich nur noch ein Weltcup", sagt er. Er kann auch nicht mehr über 20 und 50 Kilometer starten, wie er es vorhatte, die Rennen sollen nun alle an einem Wochenende stattfinden.

Im kommenden März, nach einem 50-Kilometer-Wettbewerb in der Slowakei, wird er sich wohl entscheiden. Über 20 Kilometer war Linke zuletzt erfolgreicher, im Sommer egalisierte er sogar Andreas Erms deutschen Rekord (1:18:42 Stunden). Aber die 50 Kilometer liegen ihm auch, sie werden 2020 wohl letztmals olympisch sein - der Weltverband will sie danach abschaffen. "Schade, dass es nur noch nach TV-Quoten, Spaß und Kurzweiligem geht", sagt Linke. Gut möglich, dass er in Japan also noch mal in die "längste und härteste Disziplin" der olympischen Leichtathletik eintaucht, mit ihren knapp vier Stunden dauernden Unwägbarkeiten. Und, so hofft er, mit einem guten Ende.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2019
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