Süddeutsche Zeitung

Schwimmen:Rekordschwimmerin aus dem Hinterhof-Pool

Lesezeit: 4 min

Während des Corona-Lockdowns profitierte Katie Ledecky von einer ungewöhnlichen Trainingsmöglichkeit. In Tokio ist sie nun zu ihrem sechsten Einzel-Gold geschwommen - doch sie ist viel verwundbarer als früher.

Von Claudio Catuogno, Tokio

Katie Ledecky, 24, ist jetzt die erfolgreichste Olympia-Schwimmerin, die es je gab - und auch die Familie von Tod Spieker in Atherton, Kalifornien, hat ihren Anteil daran. Spieker selbst, ein 74-jähriger Immobilienmakler, ebenso wie seine Tochter Lindy Hopman, seine Enkel Beau, 5, Delaney, 7, und Ben, 8. Tod Spieker stellte den Pool zur Verfügung. Bei den Kindern reichte es, dass sie einfach da waren. Beau fuhr mit dem Dreirad herum, Delaney zeigte ihre eingelegten Gurken. Und Katie Ledecky genoss das alles sehr: "Es war mehr als nur Schwimmen", sagte sie. "Es war eine Gelegenheit, nach draußen zu gehen, sich zu bewegen. Die Mitglieder der Familie dort waren für drei Monate die einzigen Menschen, die ich sah."

Es war im März 2020, Corona-Lockdown auch in Kalifornien, und in dreieinhalb Monaten sollten die Olympischen Spiele in Tokio stattfinden - ehe sie um ein Jahr verschoben wurden. Überall machten die Bäder zu, auch an der Stanford University, wo Ledecky studiert und trainiert, ging nichts mehr. Was also tun?

"Tod, könnten wir deinen Pool benutzen?" - "Für wen?" - "Katie Ledecky."

Bald darauf bekam Tod Spieker einen Anruf von einem Nachbarn, der in Stanford arbeitet, im Auftrag des Schwimmtrainers Greg Meehan. "Er sagte: ,Tod, könnten wir vielleicht deinen Pool benutzen?' Ich fragte: ,Für wen?', und er sagte: ,Katie Ledecky und Simone Manuel.'" Da musste Spieker nicht lange nachdenken: "Die sollen mich anrufen. Wir machen das."

So hat Spieker das kürzlich dem Sender NBC erzählt und so ähnlich zuvor auch dem Magazin The Athletic. Es kommen jetzt öfter Journalisten vorbei in Atherton. Während des 400-Meter-Freistil-Finals am Anfang der Spiele schickte die Zeitung The Mercury News einen Fotografen: Da sieht man die ganze Familie vor dem Fernseher versammelt, die Kinder in Ledecky-Trikots, schreiend, die Daumen drückend, der Kleinste am Ende weinend. Ledecky wurde nur Zweite. Ja, sagte Tod Spieker, "es erzeugt schon eine Portion Extra-Interesse, wenn du weißt, dass sie direkt hier in einem kleinen Hinterhof-Pool trainiert haben".

Spiekers Haus liegt nur wenige Kilometer vom Campus entfernt. Ein Pool im Garten gehört in Atherton fast zur Grundausstattung der Oberschicht. Aber dieser hier ist besonders: zwei Bahnen, 25 Yards (gut 23 Meter) lang, und auch sonst alles da, Überlaufrinnen, Fähnchen für die Orientierung beim Rückenschwimmen, eine Zeitnahme-Anlage. Spieker war früher selbst ein bekannter Schwimmer. "Wir haben Geschichten von Athleten gehört, die in Flüssen trainieren mussten, das war schrecklich", sagte Spieker zu NBC. Dann doch lieber eine Katie Ledecky im eigenen Vorgarten. Sechs Tage die Woche kamen sie vorbei, Ledecky, Manuel - die Olympiasiegerin über 100 Meter Freistil von Rio 2016 - und der Trainer Meehan. Die Schwimmanzüge hatten die zwei Frauen immer schon an, Schnorchel, Kickboards und Flossen in einer großen Tasche.

In Tokio hat Katie Ledecky diese Geschichte nur sehr dezent angedeutet, sie will nicht den Eindruck erwecken, als habe ausgerechnet sie besonders unter der Pandemie leiden müssen. Das Gegenteil war ja am Ende der Fall: Die Tochter und die Enkel von Tod Spieker wurden für sie wie eine zweite Familie, während sie ihre eigene, drüben an der Ostküste, wegen Corona mehr als ein Jahr nicht gesehen hat. Aber auch am Samstag, dem Tag ihres sechsten olympischen Einzel-Golds, wurde sie wieder nach Familie Spieker gefragt. Haben die Spiekers ihren Sieg über 800 Meter Freistil mitverfolgt? "Ja, wir haben Kontakt", sagte sie. "Wir schicken uns Nachrichten, auch von den Kindern. Ich bin ihnen sehr dankbar. Es ist nicht selbstverständlich, dass man drei Monate lang in eine fremde Familie aufgenommen wird."

Vor allem erzählt die Hinterhof-Geschichte davon, dass jeder Athlet und jede Athletin hier in Tokio eine eigene Corona-Episode mit herumschleppt. Und dass man die Zeiten und Platzierungen auch vor diesem Hintergrund einordnen muss. Wer hat profitiert von der Verschiebung der Spiele, für wen kamen sie ein Jahr zu spät? Wer hat den richtigen Plan ausgetüftelt, die Form zu konservieren, wer den falschen? Der US-Sprinter Caeleb Dressel, der am Samstag die 100 Meter Schmetterling mit neuem Weltrekord gewann (49,45 Sekunden) und am Sonntag gleich weiter, über 50 Meter Freistil und mit der Lagenstaffel, hatte ebenfalls etwas zu erzählen. Aber auch er schickte vorweg, er wolle "auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass das Problem an Corona meine Trainingsbedingungen waren". Die Sportler hatten halt ihre Sportlerprobleme. In Dressels Fall sahen die so aus, dass er die Garage seines Trainers als provisorischen Kraftraum nutzen musste.

Auch Sarah Köhler hatte auf eine Medaille gehofft, wurde am Ende aber nur Siebte

Katie Ledecky will es nicht auf die Corona-Unsicherheiten schieben, dass sie in Tokio viel verwundbarer wirkte als früher. Alle ihre Zeiten lagen weit über den eigenen Weltrekorden. Über 400 Meter musste sie sich der Australierin Ariarne Titmus, 20, geschlagen geben und wurde Zweite. Über 200 Meter Freistil gar nur Fünfte - auch da gewann Titmus. Sie sei eben ein bisschen älter inzwischen, sagte Ledecky, das Schwimmen "tut anders weh". Und sie hat sich ein noch anspruchsvolleres Programm auferlegt als in Rio: Die 1500 Meter Freistil sind zusätzlich im Olympia-Programm. Ein dritter Grund ist, dass ihr in Titmus etwas erwachsen ist, was sie bisher nicht kannte: eine echte Konkurrentin.

Über die 800 Meter Freistil hatte sich auch Sarah Köhler eine Medaillenchance ausgerechnet, und mit ihrer Zeit aus dem Vorlauf, 8:17,33 Minuten, hätte das auch geklappt. Aber dann kam sie ab der ersten Bahn nicht ins Tempo und wurde Siebte in 8:24,56 Minuten. Vielleicht sei doch alles ein bisschen zu viel gewesen nach ihrer Bronzemedaille über die 1500 Meter, vermutete ihr Trainer Bernd Berkhahn in Tokio. Die immerhin kann Köhler niemand mehr nehmen: die erste deutsche Medaille im Beckenschwimmen seit 2008.

Eine Katie Ledecky setzt da natürlich ganz andere Bestmarken. Sie ist jetzt sieben Mal Olympiasiegerin, sechs Mal auf Einzelstrecken, das hat vor ihr keine andere Frau geschafft. Über die 800 Meter Freistil gewann sie in London 2012, in Rio 2016 und in Tokio 2021. Muss man da nicht aufhören? Bei dieser Frage hat Katie Ledecky laut gelacht. Sie denkt an Paris 2024, auch Los Angeles 2032 findet sie mindestens reizvoll. "Und Brisbane 2032 - ist das nicht deine Heimatstadt", fragte sie Ariarne Titmus, die neben ihr bei der Pressekonferenz saß. "Ich bin doch noch jung! Ich liebe die Rennen, ich liebe das Training."

Wie viel Spaß es machen kann, zu trainieren, das sieht man auch auf den privaten Fotos, die Tod Spiekers Tochter Lindy The Athletic zur Verfügung gestellt hat. Sogar im Hinterhof-Pool, während die Welt stillstand, war das Training oft eine lustige Sache.

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