Süddeutsche Zeitung

Frankreich bei der WM:Die Heimat macht sich Sorgen

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Italien, Spanien, Deutschland - die Titelverteidiger stürzten bei den WM-Turnieren vier Jahre später ab. Und wie ergeht es Frankreich? Trainer Didier Deschamps kann längst nicht mit seiner besten Elf antreten.

Von Claudio Catuogno, al-Rayyan

Der Weg zum Weltmeister führt von Doha die Al Waab Street hinaus nach al-Rayyan. Die Stadtgrenze erkennt man an einem Schild, ansonsten ziehen sich hier weiter hinter Mauern die Wohnsiedlungen die Straße entlang. Kurz hinter der Grenze sieht man hinter WM-Bannern einen riesigen Rasen-Komplex im Flutlicht liegen. Ideale Bedingungen, wie Fußballfachleute sagen. Allerdings ist das dann gar nicht der Trainingsplatz der französischen Nationalmannschaft.

Auf der anderen Straßenseite steht das schmucke Jassim-Bin-Hamad-Stadion des al-Sadd SC, bisher Katars Nationalstadion - aber für die WM-Ansprüche leider nicht groß genug. Das kleine Katar verfügt nicht nur über die acht modernen WM-Arenen, die jetzt immer im Fernsehen zu sehen sind. Da sind noch mehr! Im Jassim-Bin-Hamad-Stadion trainiert nun Frankreich, der Titelträger der vergangenen WM. Und keine 200 Meter weiter ragt auch noch die Ali-Bin-Hamad-al-Attiyah-Arena in den Abendhimmel, die für die Handball-WM 2015 errichtet wurde, den großen Testlauf für diese Fußball-WM.

Noch ehe man es hineingeschafft hat in den turnhallengroßen Pressesaal, den überall der Schriftzug "Fiers d'être Bleus" ziert (stolz, Blaue zu sein), ist man also schon wieder mit dem katarischen Überfluss konfrontiert. Was jetzt in einem markanten Kontrast steht zur Lage der französischen Mannschaft, kurz vor deren Auftaktspiel gegen Australien am Dienstag. Bei den Franzosen ist gerade eher der Mangel das Thema.

Der Ausfall von Weltfußballer Benzema soll von Milan-Stürmer Olivier Giroud kompensiert werden

Am Sonntagnachmittag, zwei Tage vor dem Spiel, hat der Verband FFF Ibrahima Konaté - früher bei RB Leipzig, heute beim FC Liverpool - und den jungen Eduardo Camavinga von Real Madrid zum Pressegespräch geschickt; keine natürlichen Stammelf-Kandidaten. So mussten beide auch ausführlich über jenen Kollegen Auskunft geben, der in den frühen Morgenstunden aus al-Rayyan abgereist war, ohne sich von der Mannschaft verabschieden zu können: Karim Benzema, Stürmer von Real Madrid und aktueller Gewinner des Ballon d'Or für den weltbesten Fußballer des Jahres. Benzema verpasst die WM wegen einer Muskelverletzung im Oberschenkel.

Die Beschreibungen, wie genau das Team von der Schreckensnachricht erfahren hatte, unterschieden sich ein bisschen. Aber die Schlussfolgerungen klangen exakt identisch. Klar ändere es die taktische Herangehensweise einer Mannschaft, wenn der gesetzte Mittelstürmer nicht dabei sei, sagte Konaté. "Aber unsere Ziele ändern sich nicht." Und Camavinga: "Wir werden unsere Ziele nicht senken. Wir haben so viele tolle Spieler in der Mannschaft."

Das stimmt zweifellos. Allerdings sind von den allertollsten jetzt so viele angeschlagen oder gar nicht dabei, dass die Heimat sich langsam Sorgen macht.

Neben Benzema hatte wenige Tage vor der Anreise nach Katar in Person des Leipzigers Christopher Nkunku schon ein weiterer Stürmer passen müssen. Trotzdem könnte der Angriff noch das kleinste Problem werden. Kylian Mbappé, die Sturmdiva von Paris Saint-Germain, blüht erfahrungsgemäß erst so richtig auf, wenn neben ihm kein anderer Kalif spielen will anstelle des Kalifen. Antoine Griezmann (Atlético Madrid) war zwar zuletzt im Klub außer Form, ist in der Nationalelf aber gesetzt. Und nun wird anstelle von Benzema eben Olivier Giroud spielen, der klassische Stoßstürmer vom AC Mailand. Giroud mag immer wieder umstritten gewesen sein, seitdem er 2011 bei den Bleus debütierte. "Aber in letzter Zeit wird er doch geliebt", sagte Didier Deschamps am Montag grinsend zu den französischen Journalisten. "Sogar von euch. Und hier sitzen viele, die ihn kritisiert haben."

Schwieriger wird es für den Nationaltrainer Deschamps, ein Mittelfeld von gehobenen Ansprüchen zusammenzubringen. Hier fehlen N'Golo Kanté (Chelsea), einer der Weltbesten auf der Sechserposition im defensiven Mittelfeld, und Paul Pogba (Juventus). Die vergleichsweise unerfahrenen Mattéo Guendouzi (früher Hertha, jetzt Marseille) und Aurélien Tchouaméni (Real Madrid) sollen jetzt das Spiel lenken. Ob das reicht, um der erste Weltmeister seit Brasilien 1962 zu werden, dem die Titelverteidigung gelingt?

Es ist nicht mehr viel übrig von der Weltmeister-Elf aus dem Sommer 2018

Und dann noch die Abwehr: Da ist Raphaël Varane gerade erst wieder ins Training eingestiegen, jener seit Jahren als unverzichtbar geltende Innenverteidiger, der inzwischen bei Manchester United unter Vertrag ist. Presnel Kimpembe von PSG steht nicht zur Verfügung. Was Dayot Upamecano vom FC Bayern in die Startelf spülen könnte, und, zumindest gegen Australien, Ibrahima Konaté.

Es ist also nicht mehr viel übrig von der Weltmeister-Elf aus dem Sommer 2018, viereinhalb Jahre später. Das allerdings könnte auch ein gutes Omen sein - gegen den Weltmeister-Fluch!

2010 in Südafrika hatte der damalige Weltmeister Italien, gekrönt vier Jahre zuvor in Berlin, es versäumt, das Team aufzufrischen - Italien überstand die Vorrunde nicht. 2014 in Brasilien war die Elf des Weltmeisters Spanien, gekrönt vier Jahre zuvor in Johannesburg, mit dem Titel alt geworden - Spanien überstand die Vorrunde nicht. Und 2018 in Russland war der Weltmeister Deutschland nur noch eine schlechtere Kopie jenes Teams, das 2014 in Rio de Janeiro den Titel geholt hatte, was Jogi Löw allerdings erst verstand, als er von Südkorea ebenfalls nach der Vorrunde nach Hause geschickt wurde. Was heißt das jetzt für die Bleus?

Im Juli 2018 war Didier Deschamps in Moskau die Frage gestellt worden, was denn die Botschaft des französischen Triumphs an die Fußballwelt sei, und er antwortete: "Sind wir ein schöner Weltmeister? Ich weiß es nicht. Wir sind Weltmeister. Für die nächsten vier Jahre stehen wir auf dem Dach der Welt." Danach hielt auch er lange seinen Titelspielern die Treue, bei der EM 2021 war dann schon im Achtelfinale gegen die Schweiz Schluss.

Jetzt klettern sie herunter vom Dach - und sind bei dieser WM wieder ein Titelanwärter unter vielen.

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