Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft:Löw wendet das Verfahren in seinem Sinne

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Mit seiner Angriff-ist-die-beste-Verteidigung-Strategie gelingt es dem Bundestrainer, die Debatte ein wenig zu drehen. Doch für eine echte Trendwende bräuchte es eine Art Urknall.

Von Klaus Hoeltzenbein, München

Der Mann, den man sich in einer nicht allzu fernen Zukunft durchaus einmal in der Rolle des Bundestrainers vorstellen kann, taucht schon heute immer mal wieder im unmittelbaren Umfeld der Nationalmannschaft auf. Dann sagt er programmatische Sätze, die geeignet sein könnten, sogar so ein debakulöses Nullsechs gegen Spanien zu verhindern, wie es sich jüngst in Sevilla ereignet hat. "Meine größte Stärke ist, richtig starke Leute um mich herum zuzulassen", führt Jürgen Klopp aus: "Wir brauchen alle Hilfe in bestimmten Bereichen. Experten um uns herum mit mehr Lebenserfahrung. Wir brauchen nicht viele, aber die richtigen."

Auf dem Feld des Marketings hat Klopp längst Joachim Löw als die Nummer eins im deutschen Sportmarkt abgelöst. Mal wirbt er für Bier oder Rasierer, mal steuert er Autos durch Pfützen. Die obigen Sätze sind natürlich doppelbödig angelegt: Es hört sich bei Klopp an, als gehe es um Trainerpsychologie, dabei soll via Vermögensberatung den Deutschen bei der Geldanlage geholfen werden. Dieses Video wird momentan zielgenau im Umfeld der Nationalmannschaft platziert, über die Löw seit nun schon 14 Jahren den Oberbefehl ausübt. Auch Löw hat dem Fanvolk bereits Bier, Shampoo, Banken oder Autos empfohlen, im Moment ist er allerdings ein wenig aus der Mode gekommen. Dennoch: Auf Werbung in eigener Sache versteht sich Löw offenbar immer noch, und wenn er im nächsten Frühsommer ähnlich fintenreich agiert wie in seiner Jahresabschlussanalyse am Montagabend, dann wird das womöglich doch noch was mit diesen Deutschen bei der Europameisterschaft 2021.

Denn auf seiner Videokonferenz ist Löw mit einer Angriff-ist-die-beste-Verteidigung-Strategie ein kleines Kunststück gelungen: nämlich eine Debatte, die komplett gegen ihn zu laufen schien, doch noch ein bisschen zu drehen. Und dies, obwohl seine Umfragewerte zuletzt nicht mehr nur im Keller, sondern ein paar Etagen tiefer lagen.

Löws langjähriger Arbeitgeber, der Deutsche Fußball-Bund (DFB), hat ihm den Gefallen getan, nach dem spanischen 0:6 einige Fehler in der Krisenkommunikation zu begehen. Und Löw nutzte seine Chance: "Maßlos enttäuscht" sei er, zischte Löw: "Da herrscht Explosionsgefahr bei mir, wenn die Dinge nach außen gehen, die nicht nach außen gehören." Er habe sich "sehr" über die Indiskretionen im Verfahren geärgert. Derart explosiv hätte so mancher im DFB den Trainer natürlich auch gerne in Sevilla erlebt, wo er das Schicksal tatenarm von der Bank aus verfolgte. Seine Mannschaft ereilte derweil der Vorwurf des praktizierten Pazifismus, weil sie kollektiv die Zweikämpfe verweigerte.

Mehr Risiko hatte Löw 2018 versprochen - gewonnen wurde seither nicht viel

So grenzt die Situation heute fast schon ans Absurde. Es soll ja im Berufsalltag durchaus üblich sein, dass der Arbeitgeber, wenn die Zahlen nicht passen und sich auch nicht nachhaltig bessern, die Verantwortlichen zum Rapport bittet. Wenn sich dann aber, wie am Montag geschehen, der Chef, Präsident Fritz Keller, via Botschaft auf der DFB-Internetseite für den Verband (der DFB habe "ein paar schlimme Wochen" hinter sich) quasi entschuldigt, so hat der eigentlich Beklagte das Verfahren komplett in seinem Sinne gewendet. Joachim Löw ist schwer zu fassen, das ist längst bekannt. Und nun gibt er ein weiteres Rätsel auf: Wann explodiert Dynamit-Jogi?

Eine Art Urknall täte vermutlich gut. Wichtig wäre, dass sich der Bundestrainer jetzt noch einmal spannt, aber sportfachlich ist im Augenblick öffentlich nahezu nichts besprochen. Nach dem sensationellen Vorrunden-Knockout bei der WM 2018 hatte Löw in seiner mit Verspätung nachgereichten Analyse eine Mea-culpa-Haltung eingenommen, hatte es als seinen "allergrößten Fehler" bezeichnet, krampfhaft an der Idee vom Ballbesitzfußball festgehalten zu haben. Mehr Risiko, mehr Variabilität, mehr Emotionalität, mehr Überraschung - so lautete seine neue Parole. Viel gewonnen wurde seither nicht, jedenfalls nicht gegen die ganz Großen: In den 24 Länderspielen seit der Russland-WM steht nur das 3:2 gegen die Niederlande im März 2019 als Erfolg gegen einen Rivalen aus der A-Klasse im deutschen Leistungsbuch. Jetzt kam Sevilla, kamen die Spanier: Wie ein Virus, das mit endlosen Ballstafetten einen müden Körper abtastet, deckten sie sämtliche Schwachstellen auf - und dies ausgerechnet mit ihrer ewigen Ideologie vom Ballbesitz, als deren größter Fan Joachim Löw einst galt, und die ihm half, die WM 2014 in Brasilien zu gewinnen.

Im Fanvolk ist dieser Kredit inzwischen aufgebraucht. Der Fußball, die Nationalmannschaft, beide haben ein Imageproblem, das durch Corona eine Beschleunigung erfährt. Und Löw bleibt nun keine Zeit mehr, einen neuen Stil, eine neue Mannschaft zu entwickeln. Er hat zur Sichtung noch drei Länderspiele im März, dann muss die Elf für eine Herkulesaufgabe stehen. Zur Erinnerung: Frankreich, der Weltmeister, Portugal, der Titelverteidiger, sowie die erstarkten Ungarn wurden für die paneuropäische EM als Gruppengegner zugelost. Zwar genießen die Deutschen in allen drei Vorrundenspielen in München Heimrecht, aber wo darin der Vorteil liegt, haben die meisten in Pandemiezeiten, während der Spiele ohne Publikum, längst vergessen.

Und Löw, 60, lange der Prophet des schönen Fußballs, muss sich zum Pragmatiker wandeln. Er wird darauf reagieren müssen, was Corona erlaubt, welche Kandidaten unverletzt einen Winter überstehen, in dem der dichte Terminplan zum Stresstest für Muskeln und Gelenke wird. Auf seiner Videokonferenz am Montag versprach Löw zumindest Flexibilität: Vor der EM-Nominierung werde man sich "über alles Gedanken machen" und "jeden Stein" umdrehen: "Wenn wir sehen, okay, diese Mannschaft braucht noch dies oder das, um erfolgreich zu sein, dann werden wir dies tun."

Diese begabte Mannschaft braucht keinen Welpenschutz

Gemünzt war diese Aussage im Kern auf Thomas Müller sowie die Verteidiger Mats Hummels und Jérôme Boateng, namentlich genannt wurden sie von Löw nicht. Durchaus mutig, aber auch uncharmant war es, im März 2019 unangemeldet bei Hofe, in Münchens Säbener Straße, zu klingeln, um den 2014er-Weltmeistern des FC Bayern in einer kurzen Audienz den Rauswurf zu erklären. Was damals als Verdikt für die Ewigkeit zu gelten schien, hat eine Schwäche: Dort, wo die drei Ausgemusterten ihre spezifischen Stärken haben, hat die Nationalelf heute ihre offensichtlichsten Probleme. Besonders Thomas Müller drängt sich wieder auf. Zwar verfügt Löws Kader über viele hochbegabte Füße, aber - auch dies eine Erkenntnis im Meer des Schweigens von Sevilla - kein Toni Kroos, kein Ilkay Gündogan hat diese mitreißende Vitalität, zu der Müller unter dem Trainer Hansi Flick zurückgefunden hat. Falls Löw das Leistungsprinzip respektiert, wird es schwer sein, diesen Auferstandenen am Ende nicht doch zu begnadigen.

Und auch auf die folgende Besonderheit wurde bereits hinreichend hingewiesen: Ausgerechnet Flick, der 2014 der Weltmeister-Assistent des Bundestrainers war, muss nun die passenden Bauteile dafür liefern, dass Löw und sein Publikum sich vielleicht doch noch mal im Torjubel versöhnen können. Von Neuer über Goretzka und Kimmich, Gnabry wie Sané und (vielleicht) Müller - der FC Bayern, der Champions-League-Gewinner, führt eine von Flick im täglichen Prozess geschulte Achse im Programm. Hinzu kommen besondere Begabungen wie Timo Werner oder Kai Havertz, die beim FC Chelsea gelandet sind. Diese Mannschaft braucht keinen Welpenschutz. Man darf ihre Gegenwart nicht in die Zukunft vertagen unter dem Hinweis, nicht die EM 2021, erst die WM 2022 in Katar sei das große Ziel. Womöglich findet Sprengmeister Löw ja doch bald die Mixtur, die zu einem explosiven Fußball führt.

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