Süddeutsche Zeitung

Italien nach dem WM-Aus:"Wir sollten den Job gleich Buffon überlassen"

Lesezeit: 4 min

Von Birgit Schönau, Rom

Carlo Ancelotti schweigt, obwohl sich in Italien gerade alle über ihn den Mund fusselig reden und ihn beschwören als Mann der Vorsehung. Eisern schweigen, das ist auch mit Abstand das Klügste in dieser Situation. Denn die Lage ist so: Die italienische Nationalmannschaft hat am Montagabend gegen Schweden die WM-Qualifikation verpasst. Zuletzt geschah das 1958, da war Ancelotti, Jahrgang 1959, noch gar nicht auf der Welt. Jetzt soll er den Karren aus dem Dreck ziehen, und das mit einer Nationalmannschaft, die nach dem Abschied der Routiniers Gianluigi Buffon, Andrea Barzagli und Daniele De Rossi neu zu erfinden wäre.

Vor allem aber soll Ancelotti den Verantwortlichen für das Desaster im Verband als deus ex machina die Posten sichern.

Kneifen war für Buffon keine Option

Nationaltrainer Gian Piero Ventura ist bislang als Einziger nicht mehr im Amt, zurückgetreten ist er allerdings nicht. Schon am Abend der entscheidenden Nullnummer von San Siro hatte Ventura Kapitän Buffon den Vortritt gelassen, als es darum ging, nach dem Schlusspfiff vor der Nation Stellung zu beziehen. Buffon tat das im Moment größter emotionaler Erschütterung, unter Tränen. Er hatte sich seinen Abschied von der Nationalmannschaft anders vorgestellt, aber Kneifen war für den Kapitän keine Option. Ebenso wenig wie für Daniele De Rossi, der zuvor Ventura die Einwechslung mit dem Argument verweigert hatte: "Wir müssen das Spiel gewinnen, da brauchen wir nicht mich, sondern Insigne, der macht Tore." Später betrat De Rossi noch den Mannschaftsbus der Schweden, um sich für die Pfiffe des italienischen Publikums gegen die schwedische Hymne zu entschuldigen. Und um den Siegern Glück zu wünschen für die WM.

Ventura tat nichts dergleichen, sondern wartete still ab. Mit einem Rücktritt hätte er auf jene 1,5 Millionen Euro verzichtet, die ihm bis zum Vertragsende 2018 noch zustehen. Dieser Preis der Würde war dem 69-Jährigen offenbar zu hoch. Stoisch überhörte er die Rücktrittforderungen aus den Medien, von Spielern, Klubpräsidenten und vom Vorsitzenden des Olympischen Komitees. Bis ihn Verbandspräsident Carlo Tavecchio nach 48 Stunden in den goldenen Ruhestand entließ.

Tavecchio hatte diesen Trainer, der in seiner langen Laufbahn nicht mehr Erfolge vorzuweisen hatte als einen Aufstieg von der dritten in die zweite Liga, entgegen allen Warnungen im Sommer 2016 berufen. Ventura war willig und billig, das reichte dem mächtigsten Mann in Italiens Fußball. Jetzt will der 74-jährige Tavecchio, den die Uefa gleich nach seinem Amtsantritt 2014 wegen rassistischer Äußerungen für ein halbes Jahr gesperrt hatte, nicht auf einen Zipfel dieser Macht verzichten. Wie zuvor schon Ventura denkt auch Tavecchio nicht an Rücktritt. Stattdessen verspricht er allen, bei der Vorstandssitzung nächsten Montag jenes Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, das die Azzurri wieder ans Laufen bringen soll: "Ich denke da an eine international bekannte Ausnahmepersönlichkeit." An Ancelotti, der seit seiner Entlassung in München in Vancouver auf Angebote wartet.

Ein starker Mann soll also das Problem lösen, vor allem aber garantieren, dass alles bleibt, wie es ist. Dass also jener radikale Neuanfang verhindert wird, nach dem die Aktiven und das Publikum lechzen. Namentlich unter den Spielern zeigt das Stimmungsbarometer auf Krawall. Ventura hatte seinen Kredit schon vor den Playoffs verspielt, in der Presse zirkulieren jetzt SMS von Spielern, die das bestätigen: "Wir sollten den Job gleich Buffon überlassen!" Mancher Spieler fühlt sich von den alten Herren im Verband im Stich gelassen, ja betrogen. Die Spielervereinigung verlangt bereits den Rücktritt des gesamten Vorstands. Sprecher Damiano Tommasi sagte am Freitag der Gazzetta dello Sport: "Reformen sind mit diesen Leuten, die nach dem Desaster noch nicht mal den Mut hatten, vor die Presse zu treten, einfach nicht möglich. Wenn wir nicht zur WM fahren, liegt das auch daran, dass man in diesem Verband seit Jahren keine sportlichen Projekte mehr verfolgt." Tommasi wollte einen Spielerstreik in der Liga nicht ausschließen, "und ich weiß, dass die Tifosi diesmal auf unserer Seite wären".

Im Vorstand der Spielervereinigung befinden sich unter anderen die Nationalspieler Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci. Mit einem Interview im Corriere della Sera hatte Chiellini indes zwar auch Reformen angemahnt, gleichzeitig aber die Einheit des Verbands beschworen: "Wir dürfen jetzt keine Hexenjagd eröffnen." De facto war es ein Bewerbungsgespräch um das von Buffon verlassene Amt des Kapitäns. Gleichzeitig vertrat der Juventus-Spieler Chiellini die Position des eigenen Klubmanagements: Präsident Andrea Agnelli hat sich vom scharfen Kritiker zum stillen Unterstützer und Nutznießer des konservativen Regiments von Tavecchio gewandelt.

Andere sind da konsequenter. Umberto Cairo, Präsident des FC Turin und Verleger der Gazzetta, fordert ebenso den Rücktritt des Verbandschefs wie Giorgio Squinzi, Ex-Präsident des italienischen Industriellenverbandes und Patron des US Sassuolo: "Für die Jugendarbeit müsste jeder Klub zehn Prozent des Umsatzes ausgeben, nicht nur ein Zehntel des Gewinns. Es gibt viele talentierte junge Spieler, aber die meisten von ihnen erleben in den Profiligen nur Frust, weil sie nicht genügend eingesetzt werden." Die Missstände sind lange bekannt, wurden aber nie in Angriff genommen. Sie reichen vom mangelnden Investitionswillen bei der Jugendarbeit, aber auch bei der Schaffung von Infrastrukturen (Stadien und Trainingsplätze) bis hin zum Totalausfall beim Management der Nationalelf.

Die Azzurri seien eine der stärksten Marken der Welt, hätten aber bis heute keinen Manager wie die Deutschen mit Oliver Bierhoff, bemängelte der ehemalige Nationalspieler Gianluca Vialli: "Italien ist ein wunderbares Land, das aber leider von der Politik stranguliert wird. Im Fußball macht Karriere, wer die richtigen Kontakte in der Politik pflegt." Vialli sprach sich für Paolo Maldini aus, den langjährigen Kapitän des AC Mailand. Doch Maldini, der sich am Ende seiner Karriere mit dem damaligen Klubpatron Berlusconi überworfen hatte, dürfte nur kommen, wenn die Verbandsspitze erneuert würde.

Denn Berlusconi, der große Wiedergänger der italienischen Politik, steht eisern hinter Tavecchio. Kaum stand das Aus für die Azzurri fest, da rief Tavecchio bei dem 81-jährigen Parteichef der Forza Italia an, um sich zu versichern, dass alles beim Alten bleibe. Tatsächlich gab Berlusconi eilfertig im Fernsehen seinen Segen für Ancelotti ("der richtige Mann") und den Kumpel beim Verband: "Lassen wir Tavecchio entscheiden, der hat gute Arbeit geleistet."

Von der Lappalie einer verfehlten WM-Qualifikation mal abgesehen.

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Quelle:
SZ vom 18.11.2017
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