Süddeutsche Zeitung

Hertha BSC:Chaos statt Fußball

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Hertha BSC spielt gegen Gladbach mehr als 75 Minuten in Überzahl, geht in Führung - und kann am Ende trotzdem froh sein über einen Punkt. Hoffnung schöpft Trainer Dardai aus dem Formanstieg von Stürmer Córdoba.

Von Javier Cáceres, Berlin

Der Frust beim Weltmeister von 2014 saß offenkundig tief. Und Sami Khedira, der oftmals verletzte Januar-Zugang von Hertha BSC, hatte auch keine Probleme damit, das klar zu artikulieren. "Wenn man 1:0 führt und in Überzahl ist, dann muss man das Spiel anders angehen", sagte Khedira. Am Ende, das wusste auch er, konnten die Berliner fast dankbar sein, dass ihnen die Partie nicht noch völlig und endgültig entglitten war und dass der kolumbianische Stürmer Jhon Córdoba noch den 2:2-Endstand hergestellt hatte (49.).

Und wer weiß, ob Herthas Trainer Pal Dardai das Glas aus purer Notwendigkeit, oder aber aus wirklicher Überzeugung halbvoll sehen wollte. "Es war ein wichtiger Punkt", sagte der Ungar, nachdem er dabei zugesehen hatte, wie seine Mannschaft trotz Führung und Überzahl in Rückstand geraten war.

Auch Dardai war einiges am Spiel seines Teams aufgestoßen. Nämlich nahezu alles, was sich zwischen den Anfangssequenzen und dem Halbzeitpfiff zutrug. Keine 13 Minuten waren vergangen, als Gladbachs Torwart Yann Sommer per roter Karte vom Platz gestellt worden war. Nach einem langen Pass von Herthas Innenverteidiger Marton Dardai, 19, hatte Stürmer Jhon Córdoba den Ball vor dem herausstürzenden Sommer erwischt, der Schweizer brachte den Kolumbianer zu Fall und sah Rot, weil Sommer in den Augen von Schiedsrichter Patrick Ittrich eine klare Torchance vereitelt hatte. Die 24. Minute war noch nicht vorüber, als Herthas argentinischer Mittelfeldspieler Santi Ascacíbar dann per Distanzschuss zum 1:0 für die Hertha traf, wobei Córdoba wieder eine tragende Nebenrolle einnahm: Er hatte den Ball auf Ascacíbar abgelegt. Dann aber stürzten zwei Angriffe der Gäste die Berliner in größere und weitgehend unabsehbare Nöte.

Erst vollendete Alassane Pléa einen vom französischen Stürmerkollegen und Landsmann Marcus Thuram eingeleiteten Konter (27.). In der 38. Minute verwandelte Kapitän Lars Stindl einen Foulelfmeter, nachdem Herthas Kapitän Niklas Stark Thuram von den Beinen geholt hatte. Das stellte Dardai vor ein Rätsel. "Was geht in den Köpfen vor, dass du so die Kontrolle verlierst?", fragte sich der Trainer nach dem Spiel: "Statt nach der Führung weiter Fußball zu spielen, folgte ein Chaos."

Der Kölner Keller bleibt zum Missfallen von Trainer Rose stumm

Am Ende konnte Dardai trotzdem aus zwei Gründen froh sein: Erstens, weil Córdoba zum dritten Mal in der Partie entscheidend auftrumpfte und den Ausgleich für die Hertha erzielte - nach einer Hereingabe von Matheus Cunha (49.). Und zweitens, weil der Kölner Keller sich nicht meldete, als Thuram nach einem Zweikampf mit Herthas Verteidiger Lukas Klünter im Berliner Strafraum zu Fall kam. Gladbachs Trainer Marco Rose hatte die Interpretation alles andere als exklusiv, dass Klünter am Fuß von Thuram gezogen hatte und in letzter Konsequenz also ein Elfmeter fällig gewesen wäre.

Dem Schiedsrichter wollte Rose keinen größeren Vorwurf machen, wohl aber denjenigen, die im Kölner Keller saßen und dem Referee nicht zumindest die Möglichkeit geben wollten, die Szene selbst noch einmal zu begutachten. Es sei "nicht nachvollziehbar, warum dort nicht wenigstens nachgeschaut wird", sagte Rose. Und auch wenn die Hertha in der zweiten Halbzeit einen größeren Ordnungssinn bewies und eine höhere Zahl an Abschlüssen zu Papier brachte als in den ersten 45 Minuten. Aber auch ein anderer Weltmeister von 2014, Christoph Kramer, fand, nachdem er am Ende der Partie von Krämpfen geschüttelt worden war, dass für die Borussia trotz Unterzahl mehr möglich gewesen wäre.

Immerhin: Hertha ist seit drei Spielen unbesiegt

Der Punkt erlaubt es den Gladbachern zumindest, die Distanz zu den Europa-League-Plätzen nicht riesengroß werden zu lassen. Für die Hertha wiederum bedeutete das Remis, dass man die Gelegenheit vergab, sich das Leben im Abstiegskampf etwas bequemer zu machen. In der vergangenen Woche habe sich der Punkt bei Union Berlin "wie ein Sieg" angefühlt, "dieser Punkt fühlt sich wie eine Niederlage an", gestand Khedira, der in der 57. Minute für Ascacíbar eingewechselt worden war. Und Dardai sagte nicht ganz von ungefähr, dass man nun versuchen müsse, die positiven Aspekte ins Zentrum des Bewusstseins zu rücken.

Zum Beispiel? Dass Hertha nun erstmals in dieser Saison drei Spiele hintereinander ungeschlagen geblieben ist. Oder auch, dass Córdoba nach seiner mehrwöchigen Verletzungspause aus dem Winter wieder auf Touren zu kommen scheint. Der Kolumbianer ist mit neun Torbeteiligungen in 18 Saisonspielen auf dem besten Wege, Herthas wichtigste Waffe im Kampf um den Klassenerhalt zu werden. Womöglich auch in der kommenden Woche, wenn Hertha bei einem Rivalen aus dem Abstiegskampf gastiert: Mainz 05, wo Córdoba im Jahr 2015 seine erste Bundesliga-Anstellung angetreten war, ehe er über Köln nach Berlin wechselte. In der Hoffnung auf ein Leben ohne Abstiegsangst, die sich bislang als trügerisch erwiesen hat.

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