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Deutsche Handballer vor dem WM-Aus:Alles gar nicht so schlimm?

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Das Viertelfinale so gut wie verspielt, das schlechteste Abschneiden der Geschichte droht - trotzdem bemühen sich die deutschen Handballer um eine positive WM-Bilanz.

Von Joachim Mölter und Carsten Scheele, Kairo/München

In anderen Zeiten, unter anderen Umständen wäre das wohl ein ikonisches Bild für die deutsche Sport-Geschichte gewesen, wie der Handball-Bundestrainer Alfred Gislason da minutenlang auf einem blauen Plastikstuhl saß, das rechte Bein übers linke Knie gelegt, die Hände erst hinterm Kopf verschränkt, dann vors Gesicht geschlagen, den Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet. Es hat schon einmal einen Coach einer deutschen Mannschaft gegeben, der bei einer Weltmeisterschaft so gedankenverloren inmitten einer großen Einsamkeit abgebildet worden ist - Franz Beckenbauer, wie er nach dem Fußball-Finale 1990 in Rom über den Rasen des Olympiastadions traumwandelte.

Der Unterschied zwischen den Szenen: Beckenbauers Fußballer hatten damals gerade gewonnen, er war auf dem Höhepunkt seines Schaffens, und Gislasons Handballer hatten verloren, er sieht einem Tiefpunkt entgegen.

An diesem Donnerstagabend hat die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) in der neuen Arena von Ägyptens künftiger, noch namenloser Hauptstadt zwar kein WM-Endspiel bestritten, nur eine Hauptrundenpartie. Aber die 28:32-Niederlage gegen Spanien verbaut Gislasons Gruppe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur den Weg zum angestrebten Minimalziel Viertelfinale, sie führt womöglich sogar zum schlechtesten WM-Abschneiden überhaupt in der deutschen Handball-Geschichte.

"Die Mannschaft wird aufgerichtet und nicht hingerichtet", sagt Verbandsvize Hanning

Sieht man einmal vom Turnier 1997 in Japan ab, an dem überhaupt keine deutsche Auswahl teilnahm, dann war die bisher schwächste Platzierung der elfte Rang in Schweden vor zehn Jahren. Der markierte damals das Ende der Ära von Heiner Brand als Bundestrainer. Das Championat in Ägypten wird hingegen in die DHB-Historie eingehen als Beginn einer neuen Zeitrechnung, der Ära Gislason, unabhängig davon, wo die Mannschaft bei dessen Turnierdebüt am Ende landet. Bei genauerer Betrachtung ist ja alles gar nicht so schlimm und dramatisch, wie es auf den ersten Blick aussieht. Der DHB-Vizepräsident Bob Hanning sagt jedenfalls: "Die Mannschaft wird aufgerichtet und nicht hingerichtet."

Theoretisch ist die Viertelfinal-Teilnahme ja sogar noch möglich für das deutsche Team, das nach einem Sieg über Außenseiter Uruguay (43:14) und einer vorangegangenen Niederlage gegen Ungarn (28:29) gegenwärtig mit 2:4 Zählern in der Tabelle steht. Um als einer der beiden Gruppenersten in die K.-o.-Runde einzuziehen, müssen die deutschen Handballer ihre restlichen Partien gewinnen gegen Brasilien am Samstag (20.30 Uhr/ZDF) sowie Polen am Montag (20.30 Uhr/ARD), und Ungarn muss jeweils verlieren gegen Polen und Spanien.

Geht man davon aus, dass die Spanier ihr Duell gegen den Außenseiter Uruguay gewinnen, wären sie mit 9:1 Punkten als Gruppensieger weiter, und im Kampf um Platz zwei lägen Deutschland, Polen und Ungarn dann gleichauf mit je 6:4 - in diesem Fall käme es auf das Torverhältnis in den direkten Vergleichen an. "Da müssen wir sehr viel Glück haben", sagt Alfred Gislason. "Da muss schon viel Verrücktes passieren", findet auch der Kreisläufer Johannes Golla.

Vom Ziel Olympia-Gold in Tokio rücken sie beim DHB nicht ab

Bei der Einordnung dieser Weltmeisterschaft muss man freilich auch berücksichtigen, dass sie für den DHB das unwichtigste Turnier in diesem Jahr ist. Der für den Leistungssport zuständige Vizepräsident Hanning hat bei seinem Amtsantritt vor sieben Jahren ja mal das strategische Fernziel "Olympia-Gold in Tokio" ausgegeben, davon rückte er auch nach der Niederlage gegen Spanien und der absehbaren WM-Pleite nicht ab. In dieser Hinsicht ist das Qualifikationsturnier im März in Berlin jedenfalls wichtiger - und die Spiele im Sommer in Japan sind es dann sowieso.

Auch deshalb hatten beispielsweise der Berliner Fabian Wiede und der Göppinger Sebastian Heymann für die WM abgesagt: Der pfiffige Spielgestalter Wiede hat gerade erst eine Schulteroperation hinter sich und will das Gelenk nicht überlasten, um im weiteren Saisonverlauf fit zu sein; bei Heymann war es das gerade erst verheilte Kreuzband, das ihn zum Verzicht bewegte. Andere turniererfahrene Nationalspieler wie der Flensburger Franz Semper, der Lemgoer Tim Suton (beide Kreuzbandriss) und der Mannheimer Jannik Kohlbacher (Ellbogenverletzung) meldeten sich ebenfalls ab. Zudem fehlten vier Akteure, die davon Gebrauch machten, dass es der DHB den Nationalspielern wegen der Corona-Pandemie grundsätzlich freigestellt hatte, ob sie bei der WM mitmachen oder nicht: Das betraf die Kieler Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek und Steffen Weinhold sowie den Melsunger Finn Lemke.

Die personelle Hypothek, die der Bundestrainer Gislason da auferlegt bekam, erwies sich jedenfalls als zu groß. Durch das Fehlen des etatmäßigen Innenblocks mit Pekeler und Wiencek tat sich eine Lücke in der Abwehr auf, das bereits jetzt berüchtigte "Kieler Loch"; und das war nicht zu stopfen, weil ja auch der 2,10-Meter-Mann Lemke fehlte, der sonst im Defensivzentrum aushilft. Gislason musste auf die Schnelle eine neue Abwehr basteln, mit dem Flensburger Golla, 23, sowie dem international unerfahrenen Erlanger Sebastian Firnhaber, 26, im Zentrum.

Die Ungarn und die Spanier spielten diese Schwachstelle dann sehr konsequent an, die Gegentore der Deutschen fielen häufiger durch die Mitte als bei allen anderen großen Turnieren in den vergangenen Jahren zuvor - entweder mittels eines Durchbruchs oder im Zusammenspiel mit dem Kreis. Ein eingespielter Innenblock mit Pekeler und Wiencek hätte sich vom ungarischen Spielmacher Mate Lekai und dem Kreisläufer Bence Banhidi kaum so vorführen lassen. Auch die Spanier wären wohl mit mehr Respekt zur Sache gegangen.

Gerade im Vergleich mit dem Europameister, der mit einem Durchschnittsalter von 30,7 Jahren die reifste Mannschaft des Turniers stellt, wurde die Unerfahrenheit der ersatzgeschwächten deutschen Auswahl deutlich. Spaniens bald 40 Jahre alter Spielgestalter Raul Entrerrios provozierte schon in den ersten zehn Minuten zwei Zeitstrafen für den deutschen Länderspiel-Neuling Firnhaber; und der blieb auch weiterhin das bevorzugte Opfer aller Angriffe. "Wir haben am Anfang gemerkt, dass wir dagegenhalten können. Aber man merkt auch, dass der Gegner attackiert, wenn er eine Verunsicherung spürt", gab Firnhabers Nebenmann Golla zu.

"Wir können uns in der Abwehr mehr Fehler erlauben, wenn wir im Angriff mehr Tore werfen", sagt Sportvorstand Kromer

Die Spanier nutzten es auch clever aus, wenn die Deutschen beim Rückzug ihre Angriffs- gegen Abwehrspezialisten wechselten; insgesamt viermal kamen sie bei Tempogegenstößen gegen die ungeordnete DHB-Defensive zu Toren - das war genau die Differenz, die am Ende den Ausschlag gab. "Wir können uns in der Abwehr mehr Fehler erlauben, wenn wir im Angriff mehr Tore werfen", resümierte DHB-Sportvorstand Axel Kromer. Letztlich waren es ja elf fast torlose Minuten in der zweiten Halbzeit, die der Mannschaft zum Verhängnis wurden - da verwandelten die Spanier einen 22:25-Rückstand (44.) in einen 31:26-Vorsprung (56.).

In dieser Phase gelang nichts mehr, aber bis dahin hatte der erfahrene Trainer Gislason, 61, aus seinem Team herausgecoacht, was herauszucoachen war. In der ersten Viertelstunde nach der Pause spielte sein Team jedenfalls berauschend. "Wir haben noch nie so gut angegriffen gegen Spanien", fand Kromer. "Wir haben sie an die Wand gespielt", sagte Hanning, "aber wir haben nicht die Konstanz gehabt, das durchzuziehen."

Noch nicht, schwang da in seinen Worten mit, als er resümierte: "Ich ziehe viel Positives aus dem Turnier." Kromer glaubt: "Wir werden aus vermeintlichen Fehlern lernen, der Kader wird größer für die kommenden Aufgaben." Und Golla sprach womöglich auch für seinen gedankenverlorenen Trainer Gislason, als er versicherte: "Das lässt uns positiv in die Zukunft blicken."

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