Frankreich gegen Tunesien:Ein Schuss Arroganz
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Frankreichs Trainer Didier Deschamps entscheidet sich für das Spiel gegen Tunesien für eine ungewöhnliche Aufstellung. Seine B-Elf verliert auf kuriose Weise 0:1 - denn das vermeintliche Ausgleichstor wird nach dem Schlusspfiff noch kassiert.
Von Claudio Catuogno, al-Rayyan
Als im Education-City-Stadion von al-Rayyan die französische Hymne erklang und die Kamera nacheinander die nominierten Nationalspieler abfilmte, mag manch einer an einen Irrtum der Regie gedacht haben. Da standen Mandanda und Disasi neben Camavinga und Fofana neben Veretout und Kolo Muani. Kein Mbappé? Kein Griezmann? Kein Dembélé? Noch nicht mal der Torwart und Kapitän Hugo Lloris war zu sehen. Filmten die Fifa-Leute vor der abschließenden Vorrundenpartie gegen Tunesien aus Versehen die französischen Ersatzspieler ab anstelle der Startelf von Didier Deschamps?
Keineswegs. Die Ersatzspieler waren die Startelf. Sie mögen das als Zeichen der Wertschätzung verstanden haben, dass Deschamps sie auch ein bisschen teilhaben ließ an diesem Großereignis Fußballweltmeisterschaft, zumal Les Bleus vor dem Anpfiff als Gruppensieger so gut wie feststanden.
Doch dann haben sie das Spiel auf kuriose Weise verloren. Der neuseeländische Schiedsrichter Matthew Conger hatte eigentlich schon abgepfiffen, die Franzosen dachten, der eingewechselte Antoine Griezmann habe ihnen in der Nachspielzeit noch ein 1:1 gerettet. Dann meldete sich die Videoabteilung - Abseits! Conger stornierte also den Treffer, pfiff noch mal an, pfiff wieder ab, und Didier Deschamps muss sich nun fragen lassen, was dieses 0:1 gegen Tunesien für die weiteren Turnierambitionen bedeutet.
Deschamps entscheidet sich für Vorsicht und Risiko zugleich
Auf neun Positionen hatte der Nationaltrainer sein Team umgebaut im Vergleich zum 2:1 gegen Dänemark. Nur Raphael Varane in der Innenverteidigung (der nach einer Verletzung Spielpraxis braucht) und Aurelien Tchouameni durften wieder von Anfang an auf den Platz. Deschamps hatte also wieder dasselbe getan wie schon bei der WM 2018: Er entschied sich für Vorsicht und Risiko zugleich.
Für Vorsicht, weil ein Mbappé, der auf der Bank sitzt, sich nicht verletzen kann, oder weil ein Theo Hernández sich bestimmt keine zweite gelbe Karte einfängt, wenn er gar nicht mitspielt. Der Fokus liege jetzt schon auf dem Achtelfinale, hatte Deschamps angekündigt - "ich werde kein Risiko eingehen". Zugleich geht man aber als Trainer durchaus ein Risiko ein, wenn man seine Mannschaft aus dem Turnierrhythmus reißt und sie womöglich das Gefühl einer Niederlage ins Achtelfinale mitnehmen lässt. Und wenn man auch noch den Zorn des Publikums auf sich zieht mit so einem B-Elf-Auftritt, Deschamps musste sich da nur vier Jahre zurückerinnern, an die Pfiffe im Luschniki-Stadion von Moskau.
Damals hatte sich im dritten Gruppenspiel ein letztes französisches Aufgebot zu einem 0:0 gegen Dänemark gewürgt, von dem exakt nichts in Erinnerung blieb, was man gemeinhin mit Fußball verbindet (Spielfreude, Chancen, Tore), aber sehr viel, was den Spielern aufs Gemüt schlagen kann (Pfiffe, Pfiffe, Buhrufe, noch mehr Buhrufe). Allerdings haben die Franzosen zwei Wochen später im selben Stadion dann den Titel gewonnen. So gesehen hatte Deschamps alles richtig gemacht.
Das Stadion war ganz in tunesischer Hand, viele Gäste sind ja aus arabischen Ländern.
Und diesmal? Pfiffe gab es am Mittwoch in al-Rayyan auch, aber aus anderen Gründen. Das Stadion war ganz in tunesischer Hand, es sind ja viele Gäste aus arabischen Ländern bei dieser WM in Katar. Die Tunesier pfiffen aus alter Gewohnheit, sobald ein Franzose am Ball war. Zugleich waren sie aber auch euphorisiert, denn die erkennbar überhaupt nicht abgestimmte Équipe de France ließ immer wieder tunesische Chancen zu. Für die Tunesier ging es sogar noch ums Weiterkommen.
Das scheiterte letztlich am Sieg der Australier gegen Dänemark, erschien aber kurz greifbar, als Kapitän Wahbi Khazri in der 58. Minute das 1:0 erzielte: Er startete im Mittelfeld, wurde nicht wirklich angegriffen, hatte den Ball fast schon verstolpert, brachte ihn wieder unter Kontrolle und legte ihn am herausstürmenden Torwart Steve Mandanda vorbei ins Tor. Deschamps brachte dann doch noch seinen auf der ganzen Welt gefürchteten Promisturm: Erst Mbappé (zusammen mit Rabiot und Saliba) in der 64. Minute, dann Griezmann (73.), dann Dembélé (79.). Die Hoffnung, in einer halben Stunde ein Spiel zu drehen, in das sich die Tunesier eine Stunde lang hineingearbeitet hatten, schien aufzugehen. Aber nur bis zum kuriosen Schlussakkord der Partie.
Und so roch die Kombination aus Risiko und Vorsicht am Ende recht streng nach französischer Arroganz.