Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Hollands schwärzeste Messe

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Von Ulrich Hartmann, München

Das Trauma ist 34 Jahre alt, der niederländische Fußball kennt dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Man hatte schon einmal darunter gelitten, machtlos zusehen zu müssen, wie ein Konkurrent Tor um Tor schießt und man dadurch ein Turnier versäumt. Im Dezember 1983 benötigten die Spanier gegen Malta einen Sieg mit elf Toren Differenz, um sich selbst anstelle des Gruppenführenden Niederlande für die EM 1984 in Frankreich zu qualifizieren. Spanien gewann 12:1, eine Punktlandung. Um Oranje wurde es schwarz. Die Niederlande fuhren nicht nach Frankreich und zwei Jahre später auch nicht zur Weltmeisterschaft nach Mexiko. 34 Jahre später kehrt diese Erinnerung zurück.

Während die Niederländer am Samstagabend zur Borissow-Arena fuhren, schossen die Schweden in Solna Tor um Tor gegen Luxemburg. Ihr 8:0 lähmte Oranje in Weißrussland. Mit Mühe und Not wurde 3:1 gewonnen, doch das war zu wenig, um noch aufrichtig an die WM-Teilnahme in Russland zu glauben.

Wenn die Niederlande am Dienstag in der Amsterdam-Arena auf Schweden treffen, müssen sie mit mindestens sieben Toren Differenz gewinnen. Sonst versäumen sie ihr drittes von neun WM-Turnieren seit 1986. "Wenn Schweden so hoch gewinnt, können wir das auch", sagt zweckoptimistisch Mittelstürmer Vincent Janssen, allerdings brüskiert er mit seiner naiven These jede Logik - denn die Niederlande spielen nicht gegen die mauen Luxemburger, sondern gegen die bärenstarken Schweden.

Sieben Tore gegen Schweden? "Es ist noch nicht vorbei", sagt Advocaat

Auch dem verdienten Trainer Dick Advocaat bleibt mit 70 Jahren kein Fettnapf erspart. Mit Oranje die WM-Qualifikation zu verpassen, ist die eine Sache - die andere ist, dass er vorher auf exakt diese Konstellation angesprochen worden war und einem mysteriös hellsichtigen Journalisten spottend geantwortet hatte: "Domme Vraag!" Schweden gewinne niemals acht zu null gegen Luxemburg, sagte Advocaat. Jetzt schaut er selbst "domm" drein. Dass es wirklich genauso gekommen ist, dass Schweden 8:0 gewann und Oranje derart lähmte, empfand Kapitän Arjen Robben als "dikke Dreun", als Schlag ins Gesicht. Advocaat beschied mit ebenso konsterniertem wie konspirativem Blick nur: "Seltsam."

Nun brauchen sie also selbst ein 7:0 oder ein 8:1 oder ein 9:2. Nur dann dürften die Niederländer als einer von acht Gruppenzweiten ein Playoff-Duell bestreiten. Gewinnen sie nicht oder mit höchstens sechs Toren Differenz, verpassen sie nach den Europameisterschafts-Turnieren 1984 und 2016 sowie den Weltmeisterschafts-Turnieren 1986 und 2002 zum fünften Mal in ihrer jüngeren Verbandsgeschichte ein großes Turnier.

Advocaat betont: Alles ist denkbar, Wunder gibt es immer wieder. Ein Sieben-Tore-Erfolg gegen die schnellen Schweden? "Unmöglich ist das nicht", betont der frühere Trainer von Borussia Mönchengladbach, "es ist noch nicht vorbei." Aber das ist es natürlich schon. Treffsichere, selbstbewusste Schweden lassen sich von verzweifelten Niederländern im Leben nicht derart demütigen. Eher kontern sie kaltblütig.

Und so wird, falls kein Wunder historischen Ausmaßes geschieht, Oranje am Dienstag im heiligen Tempel der Amsterdam-Arena die schwärzeste Messe seiner jüngeren Historie zelebrieren. Nach dem dritten Platz bei der WM 2014 unter Bondscoach Louis van Gaal stand die Nation auf dem dritten Platz der Fußball-Weltrangliste, seither rutscht sie sukzessive ab und hat im Sommer mit Rang 36 die schwächste Platzierung ihrer Geschichte erreicht. Spieler, Trainer und Sportdirektoren gaben sich die Klinke in die Hand, Experten überboten sich im Fernsehen mit vernichtenden Urteilen, und wenn es in dieser schwärzesten Stunde überhaupt noch einen Lichtblick gibt, dann jenen, dass ab sofort alles nur besser werden kann.

Dann aber vermutlich ohne Robben. Der 33 Jahre alte Kapitän vom FC Bayern München könnte am Dienstag sein 96. und letztes Länderspiel bestreiten. Angekündigt hat er das allerdings nicht, er lässt sich alle Optionen offen. Er selbst glaubt jedoch nicht mehr an die WM-Teilnahme: "Das ist eigentlich nicht möglich", sagt er über einen Kantersieg gegen Schweden.

Mit seinem Elfmeter sechs Minuten vor dem Ende in Weißrussland hatte Robben die Niederlande überhaupt noch im Rennen gehalten. Das drohende 1:1 hätte schon das WM-Aus für Oranje bedeutet. So bleibt ihnen ein 72-stündiger Aufschub, den sie nutzen können, um sich erhobenen Hauptes vom treuen Heimpublikum in Amsterdam zu verabschieden. Weniger als um die WM-Teilnahme, sagt Robben, gehe es am Dienstag um den Stolz. Das ist jene Emotion, die dem niederländischen Fußball in den vergangenen Jahren sukzessive verloren gegangen ist.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2017
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