Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Mit Geduld und Akrobatik

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Brasilien zeigt beim 2:0 gegen Serbien, dass es sich auch von einem robusten Gegner nicht verwirren lässt. Stürmer Richarlison glänzt - und Neymar bereitet große Sorgen.

Von Javier Cáceres, Lusail

In einem Jahr, da Brasilien einige der wichtigsten Bezugsgrößen seiner nationalen Kultur verlor, die grandiosen Sängerinnen Elza Soares und Gal Costa, scheint das Land einen anderen Teil seiner Populärkultur zurückerobern zu wollen: o jogo bonito, das schöne Spiel. Am Donnerstag dauerte es gegen überaus störrische Serben. Aber am Ende waren Szenen da, die mehr als 80 000 Menschen im Lusail-Stadion aufjauchzen ließen - vor allem das Traumtor von Richarlison zum 2:0-Endstand. Damit haben die Brasilianer ihre Serie fortgesetzt: Sie haben seit 88 Jahren kein WM-Auftaktspiel mehr verloren.

Die einzigen Sorgenfalten betrafen Neymar Jr., der in der 79. Minute ausgewechselt wurde, nachdem er schmerzverzerrt am Boden gelegen hatte. Er kühlte seine Blessur mit Eis, während auf den Rängen eine Reihe von Fake-Brasilianern, Einheimische mit kanariengelben Trikots, die letzten Ballstaffetten der Partie mit Rufen quittierten, die sich wie langgezogene Olés anhörten. Nach Angaben seiner Mitspieler wurde Neymar Jr. sofort in der Kabine am Fußgelenk behandelt. "Ich hoffe, dass es nichts Schlimmes ist", sagte Abwehrspieler Alex Sandro. Der Teamarzt Rodrigo Lesmar teilte in einer Pressekonferenz nach dem Spiel mit, dass Neymar einen schweren Schlag auf den Knöchel bekommen hatte. Er befinde sich bereits in Behandlung. Man werde die kommenden 24 bis 48 Stunden abwarten, möglicherweise auch Röntgenbilder anfertigen.

Die Serben stellten von Beginn an zweierlei klar: dass sie das Spiel nach vorne nur in Ausnahmesituationen forcieren sowie sich auf die Verteidigung des eigenen Sechzehnmeterraums konzentrieren würden. Und dass sie den Gegner mit festem Fuß einschüchtern würden. Als wären sie die europäischen Verwandten der Paraguayer, und als fände das Spiel nicht im Lusail-Stadion statt, sondern im Estadio Defensores del Chaco von Asunción. Sie kassierten ihre erste gelbe Karte nach gerade einmal sechs Minuten.

Nach dem Wechsel legen die Brasilianer zu - Alex Sandro trifft mit einem kapitalen Fernschuss den Pfosten

Ihrerseits waren die Brasilianer defensiv auf der Höhe der Herausforderung, die einem Team von Kontermannschaften gestellt werden. Die brasilianischen Abwehrradare funktionierten gut; die Defensive war insgesamt konzentriert und wachsam. Die wenigen Ausflüge über die Mittellinie der Serben waren nicht dazu angetan, ein paar Cachaça zur Beruhigung einzuwerfen. Nur: Im Spiel nach vorne blieb Brasilien erst einmal das Versprechen schuldig, das die Aufstellung verhieß.

Nationaltrainer Tite hatte eine Elf auf den Rasen geschickt, die von Beobachtern in der Heimat als offensivste brasilianische WM-Mannschaft seit Spanien 1982 bezeichnet wurde. Vorne besetzten Vinícius (Real Madrid, links) und Raphinha (FC Barcelona) die Flügel; zentral agierte Richarlison (Tottenham). Dahinter versuchten sich Paquetá (West Ham) und Neymar (PSG) daran, dem Spiel Struktur zu geben. Die auffälligste Szene der gesamten ersten Halbzeit war aber nicht der Kreativität geschuldet, sondern eine Standardsituation: In der 13. Minute verwandelte Neymar fast eine Ecke direkt; Serbiens Torwart Vanja Milinkovic-Savic, der die Linie verlassen hatte, um eine Flanke abzufangen, die nicht kam, und schaffte es noch, rechtzeitig zurückzueilen.

Ansonsten war Gefahr nur latent spürbar. Zum Beispiel: Bei den spektakulären Antritten von Vinícius Jr, oder nach einem Doppelpass von Paquetá und Raphinha. Der Außenstürmer aber bekam mit seinem schwächeren linken Fuß keinen Druck auf den Ball, Milinkovic-Savic parierte.

Nach der Pause war es wieder Raphinha, der die bis dahin beste Chance der Partie vergab. Er stand Aug in Aug mit Serbiens Torwart Milinkovic-Savic - und setzte den Ball übers Tor statt ihn auf Neymar abzulegen. Kurz nachdem die Serben ihre erste Ecke der Partie getreten hatten, versuchte es Linksverteidiger Alex Sandro mit einem Schuss aus 30 Metern - und jagte den Serben einen Schrecken ein: Der Ball knallte an den linken Pfosten. Zwei Minuten später erklangen dann Trommeln, die das Lusail-Stadion in ein arabisches Sambodrom verwandelten: Richarlison staubte ab, nachdem Neymar die halbe serbische Verteidigung mit zwei, drei Hüftwacklern desorientiert hatte - und Vinícius so stramm schoss, dass Milinkovic-Savic den Ball mit einer Hand nur abklatschen konnte.

Nach dem 1:0 freuen sich die Südamerikaner über den Raum, den sie genießen dürfen

Der Treffer hatte seine Wirkung. Auf die Serben, die plötzlich entdeckten, dass man sich nicht ohne Wasservorräte in die gefürchtete Wüste begab, wenn man mal die Mittellinie überquerte. Und auf die Brasilianer, die nun größere Räume hatten, um ihr Talent aufscheinen zu lassen. Und das bedeutete, dass die Brasilianer das womöglich schönste Tor der bisherigen WM fabrizierten.

Vinícius schlug von links den Ball mit den drei äußeren Zehen des rechten Fußes Richtung Elfmeterpunkt, und dort verwandelte sich Richarlison in einen Akrobaten. Er lupfte den Ball mit links hoch, drehte sich um die eigene Achse und versenkte ihn mit einem Seitfallzieher im linken unteren Eck. In Brasilien nennt man das von jeher ein golaço, ein Traumtor. Danach traf Casmiro die Querlatte; Rodrygo tat es ihm fast nach. Aber vor allem die Romanze zwischen Richarlison und dem Tor lässt die Brasilianer hoffen: Das letzte Mal, dass ein Brasilianer einen WM-Torschützenkönig stellten, war bei der WM 2002. Damals holte Brasilien - im Finale gegen Deutschland - den fünften WM-Titel seiner WM-Geschichte.

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