Süddeutsche Zeitung

Fußball-Geisterspiele:Hymnen gegen die Stille im Stadion

Lesezeit: 3 min

Auch ohne Fans werden weiter Stadionhymnen gespielt. Doch ergibt das überhaupt Sinn, wenn niemand da ist, der mitsingt?

Von Sebastian Fischer

Es ist gerade wenig wie es immer war in den Fußballstadien des Landes, aber vor dem Anstoß soll es sich wenigstens so ähnlich anhören. In Dortmund spielten sie vor dem Derby gegen Schalke wie vor jedem Heimspiel "You'll Never Walk Alone". Beim FC St. Pauli läuft auf Wunsch der Mannschaft "Hells Bells" von AC/DC zum Einlaufen ins leere Millerntorstadion. Überall soll Musik gegen die Stille helfen, die in einer großen Arena schon mal bedrückend wirken kann. Auch wenn der Zweitligist 1. FC Nürnberg an diesem Freitag gegen Erzgebirge Aue zum ersten Mal ohne Zuschauer im Max-Morlock-Stadion spielt, wird vorher ein Lied vom Band laufen; natürlich nicht irgendeins.

Wenn es im bisweilen speziellen Genre der deutschsprachigen Fußballvereinshymnen eine gibt, auf die sich Fans mehrerer Klubs als eine der schönsten einigen können, dann ist es wohl "Die Legende lebt", eine Hommage an die Unvergänglichkeit des in seiner Historie so oft mit Vergänglichkeit konfrontierten Nürnberger Clubs. Doch ergibt das überhaupt Sinn, ein Lied zu spielen, wenn niemand da ist, der es mitsingt? Wenn Fans nur im Fernsehen zuschauen? "Es muss dann über den Bildschirm wirken", sagt Mark Bender. "Ob es da rüberkommt, weiß ich nicht."

Die Bedeutung der "Legende", so der Kosename der Hymne in Nürnberg, kann vielleicht der Mann am besten erklären, der sie geschrieben hat. Wobei der Songwriter Bender, 60, aus Neumarkt in der Oberpfalz betont, dass er das nicht alleine war, sondern ihm sein Freund und Kollege Horst Haubrich half, damals, 1998. Sie saßen in Benders Gartenhaus und brauchten für Komposition und Text von zwei Liedern "fünf, sechs Stunden", so erinnert er sich. Michael Motzek, früher Geschäftsführer der Fanshop GmbH, hatte zwei neue Club-Songs in Auftrag gegeben. Nürnberg war gerade zum vierten von inzwischen acht Malen in die Bundesliga aufgestiegen. Das eine Lied sollte deshalb "FCN Back again" heißen. Und für das andere, so erzählt es Bender, habe er den Fanshop-Geschäftsführer Motzek gefragt, was denn das Besondere am Club sei. Und der habe geantwortet: "Wir sind halt die Legende."

Der FCN rief seine Fans dazu auf, das Lied täglich um 19 Uhr zu singen.

Es gibt, grob unterteilt, zwei Arten von Stadionliedern: "Flotte Nummern", die sich über den Rhythmus einprägen, und "Feuerzeugballaden", die berühren, erklärt Bender, der es wissen muss. Er hat nicht nur für Nürnberg zahlreiche Stücke geschrieben, sondern auch für den TSV 1860 München. "Weiß-blau TSV", "Lebenslänglich FCN", die Motive ähneln sich. Die "Legende" fällt zweifellos in die Kategorie Ballade. Die ersten Takte werden von Panflöten getragen. "Ein Fels in wilder Brandung ist unser FCN", heißt es in der ersten Strophe, im Original übrigens gesungen vom Rockmusiker Oliver Hartmann, einem Anhänger von Eintracht Frankfurt zwar, aber mit der perfekten Stimme für den Song, versichert Bender.

"Die Legende lebt, wenn auch die Zeit vergeht, unser Club, der bleibt besteh'n", so geht der Refrain, es erinnert fast an ein Barock-Gedicht. Dass das Gefühlige oder Kitschige der Schlüssel für eine erfolgreiche Hymne ist, würde Bender aber nicht sagen. Vielmehr entscheidend: Die Geschichten, die Fans mit der Musik verbinden.

Bevor Bender das Gefühl hatte, dass sein Lied bei den Fans so richtig etabliert war, musste also etwas Besonderes passieren. Als der Club 2007 den DFB-Pokal gewann, war er mit seiner Frau auf dem Hauptmarkt, wo das Finale gegen Stuttgart übertragen wurde. Nach dem Ende der Verlängerung, in der Jan Kristiansen zum 3:2-Endstand getroffen hatte, lief die Hymne. Es regnete in Strömen, so erinnert sich Bender. "Die Leute standen dicht an dicht gedrängt." Und alle sangen mit.

Der größte und entscheidende Moment für sein Lied wirkt also aus vielerlei Gründen wie eine Erzählung aus ferner Vergangenheit, wenn der Club nun in einem leeren Stadion gegen Aue antritt, um am Ende dieser Saison möglichst den Abstieg aus der zweiten Liga zu verhindern. Für die Wirkung der Hymne am Fernseher werden - ganz zu schweigen von ihrem Gesang - auch die Gesichter der Fans fehlen, glaubt Bender. Anderseits hofft er, dass das Lied die Trostlosigkeit ein wenig verdrängen kann. Er ist in dieser Hinsicht natürlich befangen. Aber er kann das begründen.

Bender sagt, er werde manchmal von Kindergärten oder für Familienfeiern nach den Noten gefragt. Beeindruckt hat ihn auch ein Treffen mit Walter Birkner, dem in Nürnberg berühmten "Leierkastenmann", der bis zu seinem Tod 2016 die Hymne vor dem Stadion auf der Drehorgel spielte. "Ein ganz lieber Mensch, der total für den Club gelebt hat", sagt Bender. Schüler haben offenbar sogar mal ein Referat über die Hymne gehalten. Man findet jedenfalls ein Arbeitsblatt im Internet, es enthält einen Rechtschreibfehler, der vielmehr eine liebenswerte, unverkennbar fränkische Würdigung ist: "Die Legende", heißt es da, sei eine "Aufmunderung". Als die Leute wegen Corona noch zu Hause bleiben sollten, rief der FCN seine Fans dazu auf, das Lied täglich um 19 Uhr zu singen.

Nun wird es vorerst nur für die Fußballer im Stadion gespielt. Ob es ihnen gefällt, weiß Bender nicht. Nur ein ehemaliger Spieler habe ihm bislang versichert, dass er es mag. Schorsch Volkert, Flügelangreifer der Nürnberger Meistermannschaft 1968, sei mal zu einem Konzert seiner Band in Nürnberg gekommen. "Von Legende zu Legende", habe Volkert neben sein Autogramm geschrieben. "Ein schöner Moment", sagt Bender. Er ahnt wohl, dass es bis zum nächsten dieser Momente noch etwas dauern kann.

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SZ vom 22.05.2020
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