Süddeutsche Zeitung

Wolfsburg in der Champions League:Mitbringsel aus Andalusien

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Florian Kohfeldt kassiert gegen einen erdrückend dominanten FC Sevilla seine erste Niederlage als Wolfsburger Trainer, die Analyse fällt selbstkritisch aus. Im Gruppenfinale muss der VfL nun auf den vielleicht formstärksten Spieler verzichten.

Von Thomas Hürner, Sevilla/Hamburg

Das Kapitel Mark van Bommel haben sie beim VfL Wolfsburg eigentlich ad acta gelegt. Das kurze Engagement des niederländischen Trainers ist eines der wohl gewaltigsten Missverständnisse in der immer noch eher kurzen Vereinschronik des Klubs, auch sein fußballerisches Erbe gilt als überschaubar. Hinterlassen hat er in der Autostadt aber eine Theorie, die unter dem Begriff "Schmetterlingseffekt" bekannt ist und vom Mathematiker Edward N. Lorenz einst anhand folgender Frage veranschaulicht wurde: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?

Natürlich konnte auch van Bommel keine abschließende Antwort darauf geben, ob kleine Ereignisse sich über eine Kettenreaktion bis zu einer Katastrophe selbst verstärken. Aber die Argumentationslinie in seinen letzten Wochen als VfL-Coach folgte dem selben Muster: Wie wäre es gelaufen, wenn wir uns nicht diesen verflixt ungerechten Elfmeter gegen den FC Sevilla eingefangen hätten?

Und er hatte ja irgendwie recht: In der Historie der Champions League wurden nur wenige Strafstöße gepfiffen, die auf mehr Unverständnis stießen als jener, mit dem die Spanier im September zum 1:1-Endstand in Wolfsburg trafen. Fakt ist außerdem: Die Gäste erhielten in der engen Gruppe G, in der außerdem RB Salzburg und OSC Lille ums Weiterkommen kämpfen, dadurch einen Wettbewerbsvorteil, an dem auch der neue Wolfsburg-Coach Florian Kohfeldt noch zu knabbern hat.

"Sevilla war gut, wir nicht!", analysiert VfL-Stürmer Lukas Nmecha

Kohfeldt, seit etwa einem Monat in Diensten des VfL, wollte nach der 0:2-Niederlage im Rückspiel allerdings nicht im Konjunktiv argumentieren. Die Analyse des Dienstagabends, sagte er, sei "relativ einfach" und baue auf zwei Säulen auf. Auf der einen Seite sei der "Worst Case eingetreten", nämlich der frühe Gegentreffer durch den Sevilla-Mittelfeldmann Joan Jordan (13. Minute). Weitaus schwerer wog die Tatsache, die Kohfeldt "ein bisschen zu schaffen" machte und vom VfL-Stürmer Lukas Nmecha hinterher auf eine simple Formel gebracht wurde: "Sevilla war gut, wir nicht!"

Beide Folgerungen waren richtig. Es passte den Spaniern schon formidabel ins Konzept, dass sie mit ihrer Ballfertigkeit und ihrem Passfeuerwerk bereits früh zur mentalen Ermüdung ihres Gegners beitragen konnten. Über 60 Prozent Ballbesitz wies Sevilla am Ende auf, was das Fundament dafür war, dass die Mannschaft von Trainer Julen Lopetegui auch in allen anderen relevanten Statistiken weit vorne lag: Gespielte Pässe, angekommene Pässe, herausgespielte Torchancen - die Dominanz war über weite Strecken erdrückend. Das zweite Tor fiel verhältnismäßig spät, Rafa Mir traf in der 7. Minute der Nachspielzeit.

Erschwerend hinzu kam die hohe Fehlerquote der Wolfsburger, in der Defensive, aber auch bei den eigenen Angriffen. Bei seinen seltenen Vorstößen verhedderte sich der VfL wie Wolfgang Kubicki, wenn er in Talkshows seine Vorschläge zum pandemischen Krisenmanagement kund tut: Eine überbordende Idee war nicht zu erkennen, und mit Improvisation allein wird man der Komplexität eines starken Kontrahenten nur selten gerecht. Am Ende konnten die Niedersachsen nur einen gelungenen Angriff vorweisen - der Schuss von Nmecha sprang von Sevilla-Torwart Bono an die Latte und nicht über die Linie (23.). Der zuletzt so treffsichere Stürmer, und das ist das wohl bitterste Mitbringsel aus Andalusien, wird das letzte Spiel der Gruppenphase aufgrund einer Gelbsperre verpassen.

Kohfeldt verliert sein erstes Spiel als Wolfsburg-Trainer

"Wir sind heute nicht an unsere Leistungsgrenze gekommen", befand Kohfeldt, der nach Wochen des Aufschwungs nun seine erste Niederlage als leitender Angestellter in Wolfsburg hinnehmen musste. Allerdings - und das wollte der selbstkritische Coach keineswegs verschweigen - seien bereits da innerhalb der Partien Schwankungen aufgetreten, die dem VfL einen Zutritt zum VIP-Bereich der nationalen und internationalen Spitze noch verwehren. In der Tat: Zuletzt stimmte zwar Punktausbeute, aber schon die Erfolge in der Liga gegen Augsburg und Bielefeld waren schmucklose und unter großen Anstrengungen errungene Arbeitssiege.

Das Schicksal möchte Kohfeldt, anders als sein Vorgänger van Bommel, dafür aber nicht als Mitschuldigen benennen. An der grundsätzlichen Bereitschaft habe es dem Team in Sevilla ohnehin nicht gefehlt, sagte der Trainer. Kohfeldt vertrat vielmehr die These, dass die Umsetzung seiner taktischer Vorgaben der Übermotivation der Protagonisten zum Opfer gefallen sein könnte. Immerhin, und da würde auch der Mathematiker Edward N. Lorenz nicht widersprechen, liegt die Ereigniskette weiterhin in den Händen des VfL: Ein Heimsieg in zwei Wochen gegen Lille würde reichen, um an den Franzosen vorbei- und ins Achtelfinale der Königsklasse einzuziehen.

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