Süddeutsche Zeitung

VfL Bochum:Solo des Jahres

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Dem VfL Bochum gelingt beim ersten Bundesliga-Heimspiel seit mehr als elf Jahren ein 2:0 gegen Mainz - bei dem Gerrit Holtmann mit einem Slalom à la Messi heraussticht.

Von Ulrich Hartmann

Drei langjährige Bochumer Fußball-Traumata gleichzeitig sind am Samstag mit einem 2:0 (1:0)-Sieg gegen den FSV Mainz 05 therapiert worden: Es war für den VfL Bochum das erste Bundesliga-Heimspiel seit dem 8. Mai 2010, es waren die ersten Bundesliga-Heimtreffer seit dem 11. April 2010 und daraus resultierte der erste Bundesliga-Sieg seit dem 13. Februar 2010. Die derart lange angestauten, man muss wohl sagen: inhaftierten Gefühle, brachen beim Schlusspfiff um 17.28 Uhr aus den meisten jener 12.548 Menschen heraus, die den Besuch im Stadion angetreten hatten. Erlaubt gewesen wären sogar fast 1000 mehr. "So was hat man lange nicht gesehen", sangen die VfL-Anhänger, und selten hatten Fußballfans mit dieser musikalischen Feststellung mehr recht.

Dass mit Gerrit Holtmann und Sebastian Polter ausgerechnet jene beiden Bochumer die Treffer erzielten, die in ihrer Profi-Laufbahn auch schon mal in Mainz Station gemacht hatten, empfand der FSV-Sportdirektor Martin Schmidt als "DIE Geschichte des Spiels". Mehr noch als die bloße 1:0-Führung fiel bei Holtmanns Treffer in der 21. Minute allerdings sein 50-Meter-Solo über den halben Platz auf. "Ich dachte, ich geh' einfach mal'", witzelte er hinterher, und weil Holtmann mit dem Ball fast bis ins Mainzer Tor gerannt wäre, berichtete sein Trainer Thomas Reis hernach von der Perspektive vor der Trainerbank: "Wir standen draußen und dachten immer: schieß, schieß, schieß! Aber er lief immer weiter."

Zu dramatisch anmutendem Dröhnen im Hintergrund war vor dem Anpfiff im Stadion bedeutungsschwanger das neue Bochumer Fußball-Mantra verlesen worden: "Keine Nadelstreifen, kein weißes Ballett, kein Brimborium - einfach Castroper Straßenfußball!" Beim VfL versuchen sie, die kommerziellen Auswüchse des Fußballs durch betonte Bodenständigkeit bloßzustellen, eine Bodenständigkeit freilich, die nicht nur frei gewählt, sondern durch monetäre Zwänge auch ziemlich alternativlos ist. So aber machen sie aus der Not immerhin eine sympathische Tugend.

Gerrit Holtmann dribbelt fünf Mainzer aus

Obwohl beim FSV Mainz sechs potenzielle Startelf-Kandidaten aus der Corona-Quarantäne zurückgekehrt waren, schenkte der Trainer Bo Svensson jener Formation das Vertrauen, die eine Woche zuvor beim überraschenden 1:0-Sieg gegen RB Leipzig die Startelf gebildet hatte. Nur fehlte ihr diesmal der nötige Biss. Bochum erwies sich als Aufsteiger mit Terrier-Mentalität. Doch der Führungstreffer zum 1:0, der hatte mit Terriern nichts zu tun und auch sonst nichts mit Haus- oder Nutztieren.

Für Holtmanns kunstvolles 50-Meter-Solo von der Mittellinie nahe der linken Seitenlinie diagonal ins Zentrum und in den Mainzer Strafraum samt Torabschluss am zweiten Pfosten müsste er von Lionel Messi eigentlich ein Social-Media-Kompliment bekommen. Und wenn kein Kompliment kommt, dann hat Messi es vermutlich einfach nicht gesehen. Holtmann dribbelte nacheinander die Mainzer Silvan Widmer und Leandro Barreiro, Niklas Tauer sowie Alexander Hack und Aaron Martin aus und schloss zum Treffer ab, ehe der nachsetzende Tauer dies per Grätsche noch unterbinden konnte. Als i-Tüpfelchen tunnelte Holtmann den Torwart Robin Zentner. "Herzlichen Glückwunsch zum Tor des Jahres!", schrie der Stadionsprecher in sein Mikrofon.

Weil Bochums Simon Zoller danach erst per Volley-Drehschuss am Keeper Zentner scheiterte, weil er bei einem Schuss ins Tor die Hand zuhilfe nahm (30.), und weil der Mainzer Tauer aus exklusiver Position allein vorm Tor eine artistische Fußblockade vom Torwart Manuel Riemann provozierte (42.), blieb Holtmanns mögliches Tor des Jahres das wegweisende Tor dieses Spiels.

Drei der sechs Mainzer Quarantäne-Rückkehrer brachte Svensson zu Beginn der zweiten Halbzeit in seine enttäuschende Elf: Jeremiah St. Juste, Jean Paul Boëtius und Dominik Kohr. Es dauerte allerdings nur zehn Minuten, ehe St. Juste in der 56. Minute nicht verhindern konnte, dass Bochums frischer Zugang Sebastian Polter nach einer laaangen, hooohen Flanke von Zoller per Kopf das 2:0 erzielte. St. Juste beschwerte sich beim Schiedsrichter Patrick Ittrich, weil Polter (mit allen Wassern gewaschen) zuvor sichtlich an ihm herumgezerrt hatte, aber dem Referee schien das nicht genügt zu haben, um dem Treffer die Gültigkeit abzuerkennen.

Zu einem eigenen Treffer oder einer wenigstens spannenden Schlussphase reichte die Mainzer Gegenwehr nicht. "Letzte Woche waren wir die Underdogs und haben gegen Leipzig gewonnen, heute war es umgekehrt", sagte der Mainzer Sportchef Schmidt. "Bochum hat uns niedergerungen." Und daraufhin spielten sie im Ruhrstadion zur Feier des Tages gleich noch einmal die Grönemeyer-Hymne "Bochum". Für den Mainzer Trainer Svensson steht fest: "Bochum wird eine gute Rolle spielen in der Bundesliga."

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