Süddeutsche Zeitung

Halbfinal-Aus von Alexander Zverev:Eine völlig unerwartete, hinterhältige Pointe

Lesezeit: 4 min

Alexander Zverev holt furios einen 0:2-Satzrückstand gegen Stefanos Tsitsipas auf, verpasst das Finale in Paris aber dramatisch. Seine Grand-Slam-Träume muss er erneut verschieben.

Von Gerald Kleffmann, Paris/München

Die Schatten krochen schon langsam näher, am Seitenrand des berühmtesten Sandplatzes der Tenniswelt, dabei war ja rechtzeitig am Nachmittag diese Partie aufgenommen worden. Aber Satz auf Satz rieben sich die zwei Kontrahenten gegenseitig auf, Stunde auf Stunde zog ins französische Land, aber irgendwann, da kennt dieser komplexe Sport dann doch ein Erbarmen, kommt dieser Moment, in dem alles ein Ende hat. In dem noch einmal eine Spannung herrscht, als würden gleich irgendwo Raketen aufsteigen. Und zuvor halten alle die Luft an, die zusehen.

Um 18.28 Uhr begann es zu brodeln. 40:15. Matchball, erster. Nach 3:26 Stunden. Vergeben. Noch einer. Alexander Zverev wehrt diesen auch ab, mit einem Stopp aus dem Lehrbuch. Dann: dritter Matchball. Ass. Stefanos Tsitsipas: chancenlos. Vierter Matchball: Aufschlagwinner. Zverev verkürzt tatsächlich. 3:5 im fünften Satz. Hoffnung keimte. Doch dann hatte der Grieche, 22, die Nummer fünf der Welt, den Deutschen Zverev, die Nummer sechs besiegt. Matchball fünf saß, mit dem Aufschlag. 3:6, 3:6, 6:4, 6:4, 3:6 musste sich der 24-Jährige aus Hamburg geschlagen geben.

Zverev muss weiter warten. Wieder mal knapp vor dem ersehnten Ziel verlor er, wenn auch dramatisch. In Paris, bei diesen French Open, hatte er nicht nur die Chance, sein zweites Grand-Slam-Finale zu erreichen. Es wäre sein erstes in Roland Garros gewesen. Nur Michael Stich stand dort mal in der Profitennis-Ära ab 1968, 1996. Tsitsipas erlebt nun seinerseits diese Premiere, als Endspiel-Debütant am Bois de Boulogne. "Dass ich im Halbfinale war, ist mir so egal", sagte Zverev geknickt, "auch wenn das arrogant klingen mag. Aber ich habe das Turnier nicht gewonnen."

Für Zverev war die Ausgangslage einfach: Endlich, endlich wollte er zum ersten Mal einen Top-Ten-Spieler, einen Gegner aus den ersten Zehn der Weltrangliste, bei einem Grand-Slam-Turnier besiegen. Man glaubt es ja kaum: Er war im Endspiel der US Open, er war im Halbfinale der Australian Open, er war vor diesen French Open zweimal dort im Viertelfinale - in neun Duellen mit Gegnern aus dem höchsten Ranking-Bereich verlor er: neun Mal. "Solche Statistiken interessieren mich nicht", hatte er nun aber gesagt, mit der angemessenen Mischung aus Trotz und Realismus. "Ich weiß, zu was ich fähig bin." Natürlich war das richtig, Zahlen auszublenden. Was er aber nicht ignorieren konnte, war Tsitsipas in seiner physischen Pracht, als er ihm im Court Philippe Chatrier gegenüberstand. Und es sollte gleich ungünstig losgehen.

Tsitsipas luchste ihm das Aufschlagspiel zum 2:0 ab, 3:0, 4:1, 5:2. Zverev musste den ersten Satz abgeben, 3:6 nach 39 Minuten. Kann passieren, aber besorgniserregender war für ihn: Im Spiel war er nicht drin. Tsitsipas diktierte die Ballwechsel oft, Zverev reagierte, statt zu agieren. Unter Amateuren kann das wunderbar aufgehen als Rezept, im Spitzenbereich fruchtet Passivität eher selten. Umso mehr Signalkraft besaß der Beginn des zweiten Satzes. Zumindest sendete Zverev mal ein Lebenszeichen. Break zum 2:0 und ein Schrei. Es wackelte nicht gleich der Eiffelturm dabei, wie bei Novak Djokovics jetzt schon legendären Ausbruch nach dessen Viertelfinalsieg. Aber Tsitsipas wusste: Jetzt hat er einen Gegner. Zverevs Bestreben musste es wahrlich sein, in den Kopf von Tsitsipas zu kriechen. Ihn mehr zu stressen.

Zverev motzt den Schiedsrichter obszön an - und hat Glück: keine Strafe

Aber so etwas sagt sich von außen immer leicht. So wie das folgende zweite Halbfinale zwischen Rafael Nadal und Novak Djokovic einen neuen Hinweis darauf geben würde, wer zwischen diesen zwei die Branche überstrahlenden Größen diesmal besser ist, so beinhaltete das Duell zwischen Zverev und Tsitsipas für sich ja eine eigene Erschwernis: Die beiden zählen eindeutig zu den fähigsten Bewerbern in der Thronfolge. Und nur einer würde die Chance erhalten, sich im Finale mit Nadal oder Djokovic anzulegen. Dieses Halbfinale war auch ein Stellungskampf. Und dass es um sehr viel ging, war eben zu spüren. Fast jeder Ballwechsel glich der Intensität eines Matchballes. Und Tsitsipas war einfach stabiler, 6:3 nach 0:3, damit eine 2:0-Satzführung für ihn nach nur 1:17 Stunden. Tsitsipas hatte Zverev kurz, als der an der Tür geklingelt hat, ins Haus gelassen. Und dann gleich wieder hinten über die Terrasse rausgeschickt. Auch, weil er konstant auf Zverevs Vorhand aufschlug, die diesmal schwächelte.

In der Selbstbetrachtung hatte Zverev in Paris erzählt, er habe sich zu oft "Ziegelsteine" auf die Schultern in Grand Slams gepackt, weshalb er in den letzten Phasen oft nicht das zeigte, was er könne. Nur ist es nun mal so, dass dieses Gewicht einfach dazu gehört, wenn der Pokal schon in Sichtweite ist. Es geht also vielmehr darum, die Ziegelsteine geschickt zu stapeln, dass sie einen nicht erdrücken. Um frei zu sein. Freiheit ist Macht in solchen Partien, und tatsächlich gewann Zverev beides langsam zurück. Er traute sich mehr zu, was sich im Ergebnis widerspiegelte. Tsitsipas passte einmal nicht auf und gab sein Aufschlagspiel ab zum 1:2. Diesen Vorteil transportierte Zverev durch den Satz. Es war, als hätte Zverev Tsitsipas ein paar Ziegensteine rübergeschoben. Der verkrampfte. Die Kraft ließ nach. Bälle gingen knapp in Aus. Und Zverev motzte, einmal raunte er, nach einer strittigen Entscheidung, obszön den Schiedsrichter an (wofür er eine Verwarnung hätte erhalten müssen). Das war falsch und doch half es ihm. Zum Druckabbau. Nach einem 6:4, 6:4 für Zverev hieß es: fünfter Satz.

Faszinierend war, wie sich Zverev die innere Freiheit zurück erkämpft hatte. Er hatte Tsitsipas zum Rollentausch gezwungen nach zwei Sätzen. Als hätte ein Double zuvor auf dem Platz gestanden. Doch Tsitsipas fing sich, wirkte wieder vitaler, und wie aus dem Nichts gelang ihm das Break zum 3:1. Eine völlig unerwartete, hinterhältige Pointe. Und Tsitsipas ließ sich diesen Vorteil nicht mehr nehmen. Überglücklich sprach er: "Alles, woran ich denken kann, sind meine Wurzeln", sagte der Grieche. "Ich komme aus einem kleinen Land. Mein Traum war es, einmal hier auf der großen Bühne zu spielen." Am Sonntag bekommt er sein Finale. Frustriert gab Zverev zu: "Wenn mich einer in den nächsten drei Tagen anspricht, gehe ich weg."

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