Süddeutsche Zeitung

Fußballerin Samantha Kerr:Akrobatin mit Ball

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Gewaltige Aufgabe für die deutschen Fußballerinnen: Sie müssen Samantha Kerr stoppen. Die Australierin gilt als eine der besten Stürmerinnen weltweit - und ist mancher DFB-Spielerin in schlechter Erinnerung.

Von Anna Dreher, Wiesbaden/München

Womöglich hat Martina Voss-Tecklenburg auch diese Szenen bei der Videoanalyse des nächsten Gegners gezeigt. Der Bundestrainerin geht es stets um die bestmögliche Vorbereitung und in diesem Fall darum, vor allem eine Spielerin unter Kontrolle zu bringen: Samantha Kerr. Es ist nicht lange her, dass sie mal wieder gezeigt hat, wie schwer das werden dürfte.

Szene Nummer eins: Kerr sprintet los, bekommt den Ball, dribbelt die Torhüterin aus, trifft. Szene Nummer zwei: Kerr nimmt einen hohen Pass im Strafraum an, lässt sich von drei Bewacherinnen nicht aus der Ruhe bringen, dreht sich, bringt den Ball mit zwei Berührungen in bessere Position, donnert ihn ins Netz.

Es handelt sich dabei um zwei Szenen aus der Champions League, als Kerr maßgeblich dazu beigetragen hat, dass der Vorjahresfinalist VfL Wolfsburg vergangene Woche im Viertelfinale gegen Chelsea FC Women ausgeschieden ist. Gerade die Wolfsburgerinnen dürften also sehr gut im Gedächtnis abgespeichert haben wie torgefährlich Kerr ist. Diese derzeit in Europa, wenn nicht gar weltweit, vielen als beste Angreiferin geltende Ausnahmekönnerin, auf die Deutschlands Nationalfußballerinnen am Samstag (16.10 Uhr, ARD) im Länderspiel gegen Australien treffen werden. "Sie ist einfach eine unfassbare Spielerin", sagte Lena Oberdorf vor dem Wiedersehen. "Sie ist sehr schnell, weiß, wo sie zu stehen hat und braucht nicht viele Kontakte, um ein Tor zu machen. Das haben wir bitter erfahren müssen."

Mit 15 Jahren debütiert Sam Kerr in der Liga und im Nationalteam

Dass Kerr, 27, zu den besonders Talentierten ihrer Generation gehört, ist keine neue Erkenntnis. Aber so richtig bewusst geworden ist das im europäischen Fußball wieder, seit sie von 5. Januar 2020 an für Chelsea auf dem Platz und damit im Fokus der inzwischen Maßstäbe setzenden englischen Liga steht. "Sie ist bescheiden, fleißig, ehrlich, nachdenklich. Eine unglaubliche Teamplayerin", sagte Chelsea-Trainerin Emma Hayes. "Es gibt Top-Spielerinnen, aber eine Top-Spielerin zu haben, die auch eine Top-Person ist? Glückliche Tage."

Die ersten Wochen in London liefen zunächst nicht sonderlich glücklich. Kerr verfehlte das Tor öfter als üblich, wofür sie angesichts der hohen Erwartungen kritisiert wurde. Sie tat sich schwer mit der Umstellung. Neues Land, neue Kultur, neues Team. Sie bewege sich außerhalb ihrer Komfortzone, gestand Kerr einen Monat nach ihrem ersten Auftritt ein: "Es fordert mich mental mehr als alles andere heraus." Aber genau deswegen war sie ja gekommen: Um herausgefordert zu werden.

In der australischen und der amerikanischen Liga stellt die Stürmerin Torrekorde auf

Als 15-Jährige fing sie 2008 bei Perth Glory an, spielte für Sydney FC und ging 2013 erstmals ins Ausland, zu Western New York Flash in der Auftaktsaison der neu formierten National Women's Soccer League (NWSL). Nach einem Jahr kehrte sie nach Perth zurück, um fortan zwischen ihrer Heimat und den USA zu pendeln. Während die W-League pausierte, spielte sie für Sky Blue FC in New Jersey und später für die Chicago Red Stars. Um sie in Australien zu halten, wurde sie vom Ligaverband 2018 als erste Frau als sogenannter "Marquee Player" ausgezeichnet. Damit konnte die Gehaltsobergrenze umgangen werden, was bei Kerr mit 400 000 australischen Dollar für eine weniger als vier Monate dauernde Saison verbunden gewesen sein soll. Gegangen ist sie später trotzdem, ihr Gehalt bei Chelsea dürfte mindestens in diesem Bereich liegen.

In der W-League sind ihre 70 Tore erst in der laufenden Saison von Michelle Heyman (73) übertroffen worden. In der deutlich stärkeren NWSL führt Kerr die Liste der besten Torschützinnen mit 77 Treffern bei 119 Einsätzen nach wie vor an. Selbst US-Stars wie Carli Lloyd (39/93), Megan Rapinoe (34/75) und Alex Morgan (33/89) folgen auf Plätzen weiter hinten. Und nachdem Kerr sich inzwischen bestens in ihrer neuen Umgebung eingelebt hat, ist sie auch in der englischen Women's Super League dabei, ihrem Ruf gerecht zu werden. Kerr, die für ihren akrobatischen Jubel mit Salto bekannt ist, kommt auf 17 Tore - mit dem Unterschied, dass sie hier nun in der Niederländerin Vivianne Miedema (Arsenal) eine nicht minder begabte Konkurrentin hat, mit der sie sich Platz eins (noch) teilt.

Bei Titelverteidiger Chelsea zeigt sich nun wie schon zuvor, dass Kerr für gewöhnlich das Zentrum einer Mannschaft bildet. Wie auch im australischen Nationalteam. Mit 15 absolvierte Kerr im Februar 2009 ihr erstes Länderspiel. Seit 2011 hat sie an drei Weltmeisterschaften teilgenommen und die Matildas zu zwei Olympischen Spielen geführt. Doch mehr als das Viertelfinale war auch mit Hoffnungsträgerin und Kapitänin Kerr nicht drin. Die nächsten Partien sind wichtig, Australien will sich warmspielen: Wenn im Juli in Tokio Olympia stattfindet, soll endlich ein größerer Erfolg gelingen. "Hier sind einige neue Gesichter, es wird also eine Herausforderung", sagte Kerr vor den Länderspielen gegen Deutschland und die Niederlande am Dienstag. "Aber Aussies lieben diese Underdog-Mentalität."

Bevor sie nach mehr als einem Jahr wieder das Nationaltrikot und umso mehr Verantwortung trägt, erinnerte sich Kerr auch an ihre Anfänge. "Ich hatte keine Idee, was ich machen wollte, wer ich sein wollte oder wohin ich gehe", sagte sie. "Jetzt habe ich eine klare Vorstellung davon, was ich tun, wo ich sein möchte und wo ich mich selbst sehe. Ich bin einfach eine ganz andere Spielerin." Auf ihre Torgefahr hat sich das jedenfalls nicht ausgewirkt.

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