Süddeutsche Zeitung

Deutschlands Halbfinalgegner Frankreich:Die Trainerin wird "der Drache" genannt

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Tränen, Suspendierungen, Streit: Seit Jahren leiden Frankreichs Fußballerinnen unter dem Verhältnis zu Nationaltrainerin Corinne Diacre. Vor dem Duell mit den Deutschen hat sich das Team offenbar zusammengerissen.

Von Anna Dreher, Rotherham/London

Im abschließenden Viertelfinale der Europameisterschaft lief die Verlängerung, Kadidiatou Diani startete einen der zahlreichen französischen Angriffe. Die Niederländerin Dominique Janssen rannte ihr hinterher und wusste sich nicht anders zu helfen, als Diani in den Lauf zu springen, blöderweise ohne den Ball zu berühren. Schiedsrichterin Ivana Martincic sah erst keinen Grund einzugreifen, schaute sich die Szene dann aber doch am Bildschirm an - und zeigte auf den Punkt. So brachte an diesem Samstagabend in Rotherham nach 102 Minuten ein Elfmeter die Entscheidung darüber, auf wen Deutschland am Mittwochabend im Halbfinale in Milton Keynes treffen wird (21 Uhr, Liveticker SZ.de).

Ève Périsset schoss nach links, die an diesem Abend ansonsten überragende Torhüterin Daphne van Domselaar flog in die richtige Richtung, aber ihr fehlten ein paar Zentimeter - der Ball war drin und Titelverteidiger Niederlande raus.

"Ich bin sehr stolz, dieses Team hat ein großes Ziel vor Augen und gibt absolut alles", sagte Corinne Diacre. Die französische Nationaltrainerin hatte das Spiel derart angespannt verfolgt, dass sie erst nach dem Schlusspfiff wieder zu lächeln vermochte: "Die Spielerinnen sind unserem Matchplan treu geblieben, haben ihre Rollen erfüllt. Wir haben ein neues Niveau erreicht, aber das ist noch nicht das Ende." Die französische Sporttageszeitung L'Équipe titelte: "Sie sind frei". Zuletzt war Frankreich 2012 bei den Olympischen Spielen unter die besten Vier gekommen und wurde, wie bei der WM 2011, letztlich Vierter. Ansonsten war spätestens im Viertelfinale Schluss: bei der EM 2009, 2013 und 2017 sowie bei der WM 2015 und 2019.

Marie-Antoinette Katoto fällt mit einem Meniskusriss aus

Vor allem 2019, im eigenen Land, war das schmerzhaft. Corinne Diacre, lange Zeit Rekordnationalspielerin ihres Landes und ab 2014 Trainerin von Clermont Foot in der zweiten französischen Männer-Liga, hatte das Team im Herbst 2017 übernommen und sollte die Serie des Viertelfinal-Scheiterns endlich beenden. Frankreich galt angesichts der Qualität im Kader als Titelkandidat, aber dann war der spätere Weltmeister USA zu stark.

Nachdem es 2019 nicht geklappt hatte, formulierte Diacre für 2022 das Ziel, "mindestens das Endspiel zu erreichen". Dem sind die Französinnen nun schon sehr nahe gekommen. Obwohl sich die Liga-Torschützenkönigin Marie-Antoinette Katoto im Gruppenspiel gegen Belgien verletzt hat und mit einem Meniskusriss ausfällt. Und obwohl vor der EM mal wieder Unruhe herrschte.

Kontroversen, Machtkämpfe und Streit - das hat bei den talentierten Französinnen schon öfter Erfolge verhindert. Die Stimmung im Kader - stark geprägt von zwei Lagern, Olympique Lyon auf der einen Seite und Dauerrivale Paris Saint-Germain auf der anderen - soll lange explosiv gewesen sein. Die Beziehung zwischen Diacre und dem Team gilt ebenfalls nicht als die beste. Auch in diesem Jahr deutete sich wieder an, dass Spannungen ein gutes Ergebnis verhindern könnten.

Es ist offenkundig, dass Diacre sich vor allem mit Zweien nicht versteht: mit Rekordtorschützin Eugénie Le Sommer (86 Treffer in 175 Partien) und mit der hochveranlagten Mittelfeldspielerin Amandine Henry. Die beiden gehören zu den erfolgreichsten Fußballerinnen Frankreichs, im Mai gewannen sie mit Lyon zum wiederholten Mal die Meisterschaft und - auch dank eines Tores von Henry - die Champions League. Von Diacre wurden sie für die EM dennoch nicht berücksichtigt: Ein Schlag ins Gesicht vor allem für Henry, die Diacre 2017 noch zur Kapitänin ernannt und damit wiederum die langjährige Anführerin Wendie Renard vor den Kopf gestoßen hatte.

"Sehe ich das Vertrauensverhältnis zwischen Trainerin und Mannschaft zerrüttet? Leider ja"

Henry hatte dem Fernsehsender Canal+ bereits nach der WM 2019 erzählt, dass sie Spielerinnen auf deren Zimmern weinen gesehen habe; sie selbst habe ebenfalls geweint, und alles sei einfach nur Chaos gewesen. "Sehe ich das Vertrauensverhältnis zwischen Trainerin und Mannschaft zerrüttet? Leider ja", sagte Henry. Die 32-Jährige hielt sich auch nicht mit Details zurück, nachdem sie im Herbst 2020 für Länderspiele außen vor blieb: "Der Anruf dauerte 14 oder 15 Sekunden. Ich werde mich den Rest meines Lebens daran erinnern." Diacre habe ihr gesagt, dass sie aufgrund ihrer jüngsten Leistungen nicht dabei sei: "Ich war zwei Sekunden lang still, dann habe ich gesagt: Okay, viel Spaß beim Spiel, Tschüss."

Diacre gilt als äußerst streng, von manchen hat sie den Spitznamen "der Drache" erhalten. Dass Henry mit anderen bei einem Treffen mit Verbandspräsident Noël Le Graët das Auftreten der Trainerin kritisierte, woraufhin Le Graët Diacre anrief, sei bei dieser wohl nicht gut angekommen, glaubt Henry. Sie frage sich aber auch, ob es nicht besser gewesen wäre, mehr mit Diacre zu reden. Immerhin da sind die beiden einer Meinung: Das Thema hätte intern behandelt werden müssen statt medial, befand Diacre, es wäre schön gewesen, wenn zuerst mit ihr gesprochen worden wäre.

Die einstige Stammtorhüterin Sarah Bouhaddi hatte bereits nach der WM 2019 die Entscheidung getroffen, nicht mehr Teil der Auswahl sein zu wollen, weil die Stimmung "sehr, sehr negativ" und ein Titel so nicht möglich sei: "Ich könnte meine Hände darauf verwetten, dass Frankreich die EM nicht gewinnen wird, solange Diacre das Sagen hat." Zudem verzichtete die Trainerin auf Kheira Hamraoui, was mit einem ominösen Eisenstangen-Angriff auf diese im vergangenen Jahr zusammenhängt. Bei den Ermittlungen rückte Hamraouis PSG-Mitspielerin Aminata Diallo in den Fokus. Diallo wurde letztlich ohne Anklage freigelassen, die Kontroverse strahlte jedoch auch ins Nationalteam ab.

Die Stimmung im Quartier soll so gut sein wie nie seit dem Beginn der Zusammenarbeit

Aber, Überraschung: So umstritten diverse Entscheidungen von Diacre auch waren und so sehr die 47-Jährige kritisiert wird, bei der EM scheint sich das Team gefunden zu haben. Die Stimmung im Quartier soll so gut sein wie nie seit dem Beginn der Zusammenarbeit, was sicherlich damit zusammenhängt, dass Diacre versucht, weniger autoritär aufzutreten und mehr mit den Spielerinnen zu sprechen. Den Wandel in ihrem Führungsstil soll sie sich für dieses Turnier extra vorgenommen haben - im Sinne des Erfolgs.

Wie der deutsche Kader zeichnet sich der französische durch eine gute Mischung aus Talent und Erfahrung aus, hinzu kommt eine hohe individuelle Klasse. Abwehrchefin Wendie Renard ist wieder Kapitänin. Der Ausfall von Katoto in der Offensive wird kompensiert. In der Gruppenphase gewann die Equipe 5:1 gegen Italien, 2:1 gegen Belgien und spielte 1:1 gegen Island. "Das ist ein tougher Gegner. Wir wissen, dass Frankreich eine enorme Qualität hat in den Umschaltmomenten, fantastische Einzelspielerinnen mit ganz viel Tempo", sagte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg am Samstag. "Aber ich glaube, dass auch Frankreich Respekt hat vor unserer gezeigten Leistung."

Die Deutschen haben zudem nicht 120 Minuten in den Beinen, sie hatten außerdem seit ihrem Viertelfinale zwei Tage mehr Pause. Und in Sara Däbritz haben sie eine Frankreich-Expertin im Team. Die 27-Jährige spielte die vergangenen drei Jahre für Paris Saint-Germain. Künftig steht sie bei Lyon unter Vertrag.

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